Dortmund. Shinji Kagawa ist eine der größten Attraktionen der Bundesliga. Auch weil er schon Verzicht üben und Demut lernen musste
Die Uhr an seinem Handgelenk ist so groß wie die Brille im Gesicht des jungen Harry Potter. Könnte daran liegen, dass seine Arme noch immer dünn wie japanische Essstäbchen sind. Er ist ein Zwerg, körperlich gesehen. Auf dem Fußballplatz aber ist Shinji Kagawa von Borussia Dortmund ein Riese. Aktuell vielleicht der größte in der Bundesliga. Regelmäßig verwöhnt er seine Zuschauer, manchmal, ja manchmal verzaubert er sie sogar. Nicht umsonst nennen sie ihn auf dem Boulevard: AbraKagawa.
Es kann jedenfalls kaum noch Zufall sein, dass Dortmunds großartige Siegesserien mit der Anwesenheit des Ballzauberers einhergehen. Zweimal sieben Siege in Folge in der Hinrunde der Meistersaison, aktuell acht Siege in Folge und 18 Spiele ohne Niederlage. Dazwischen aber liegt für Kagawa eine Leidenszeit.
Erst der Mittelfußbruch Anfang 2011. Dann das verheerende Erdbeben in Japan, das sich am Sonntag erstmals jährt. Der Super-GAU im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Kagawa ist zwar nicht direkt betroffen, „den Freunden aus der Mittel- und Oberstufe ist aber das ganze Haus weggespült worden“. Das beschäftigt ihn, das berührt ihn. Schließlich der Tod der Oma. Als der BVB am 30. April die siebte deutsche Meisterschaft feiert, trauert Kagawa in der Heimat mit der Familie.
Kagawas Werte ligaweit einmalig
In einer Zeit, die reich ist an Höhepunkten, sind dies die Nackenschläge. Und zugleich wertvolle Erfahrungen. Als Kagawa nach der Reha auf den Fußballplatz zurückkehrt, sagt er: „Anfangs war da nur Enttäuschung. Aber dann habe ich gedacht: Das ist wohl eine dieser großen Hürden im Leben eines Sportlers.“ Eine der Hürden, an der man wachsen könne; vor allem menschlich. Vielleicht muss man das wissen, um einen Teil seines Erfolgs verstehen zu können. Verzicht lehrt auch Demut.
In dieser Zeit, an den nicht so guten Tagen, hat er einiges gelernt. Zum Beispiel, dass er noch viel mehr auf seinen Körper hören und diesen noch viel besser pflegen müsse. Dass es manchmal Zeit braucht.
Die Hürde hat Shinji Kagawa offensichtlich genommen. Für den Japaner sind in dieser Saison nicht einfach nur 16 Scorerpunkte notiert; acht Tore und acht Vorlagen. Neun Torbeteiligungen – und das ist ligaweit einmalig – führten zum wichtigen 1:0. Zum teilweise schon entscheidenden 1:0. Wie gegen Leverkusen. Als Kagawa erst aus vollem Lauf abrupt abbremst, flink mit rechts einen Haken schlägt, damit seinen Gegenspieler verdreht, den Ball noch einmal kurz antippt und ihn schon im nächsten Moment mit links an zwei heranfliegenden Abwehrbeinen und Torwart Bernd Leno vorbei ins lange Eck bugsiert – und später erklärt: „Wir sind halt klein. Das müssen wir ausgleichen durch Schnelligkeit, Wendigkeit, Kreativität.“ Und einen Schuss Genialität. Das war einer dieser großen Momente des Zauberzwergs.
Möglich sind solche Leistungen wahrscheinlich auch deshalb, weil Jürgen Klopp in einer schwierigen Phase die Zeichen der Zeit erkannt hat. Vor dem Hinspiel gegen den FC Augsburg, gegen den es am Samstag wieder geht, nahm der Trainer seinen Kreativen aus der Mannschaft – und damit aus der Schusslinie.
Kagawa ist in Hochform
Kagawa hatte nach starkem Saisonstart genauso stark abgebaut. Er hatte zu knacken an den Spätfolgen seiner Verletzung, an der gestiegene Belastung, an drei Länderspielreisen binnen acht Wochen, auf denen er 60 000 Flugkilometer abriss. Er war überspielt, übermüdet,der Automatismen überdrüssig. Er war irgendwo zwischen den Zeitzonen.
Der Japaner pausierte gegen Augsburg und in Bremen. Seitdem hat er sich bis zur Hochform gesteigert. Zuletzt gegen Mainz hat er das Sieg bringende 2:1 geschossen. Zwei Tage nach einer neuerlichen Weltreise. Es sei zwar schwierig gewesen und die Konzentration zwischendurch flüchtig – doch es war möglich.
Bleibt die Hoffnung der Fans, dass die Zeit von Shinji Kagawa beim BVB nicht so schnell abläuft. Borusse Nummer 23 ist einer der letzten Leistungsträger, die ihren Vertrag noch nicht vorzeitig verlängert haben. Er endet aktuell im Juni 2013. Eine Ausdehnung der Zusammenarbeit sollte keine Zauberei sein. Das Ziffernblatt seiner Armbanduhr ist jedenfalls schon mal Gelb, Borussia-Gelb.
BVB feiert Vereinsrekord
