Dortmund. Nach Beginn der Champions League prognostizierte Sky-Experte Dietmar Hamann Borussia Dortmund das Gruppenaus. Im Interview bezieht er Stellung.

Sky-Experte Dietmar Hamann ist bekannt für sein Fußballwissen, aber genauso für kontroverse Aussagen. Nach dem zweiten Spieltag der Champions League prognostizierte der 50-Jährige in seiner Sky-Kolumne Borussia Dortmund das Gruppenaus in der Königsklasse. Nicht nur das: Er traute der Mannschaft von Edin Terzic nicht einmal den dritten Platz zu. Aus heutiger Sicht weiß man: Der BVB hat sich als Gruppenerster durchgesetzt und steht nun am 1. Juni im Finale gegen Real Madrid. Die Aussage des Champions League Siegers von 2005 konnte also zu Freuden der Dortmunder Fans schon früh in die Kategorie schlecht gealtert einsortiert werden. Warum sich Hamann damals so äußerte, wie er das aus heutiger Sicht bewertet und welche Chancen er Schwarz-Gelb gegen die abgezockten Madrilenen ausrechnet, erklärt er in diesem Interview.

Herr Hamann, bald steht das Champions-League-Finale an. Sie haben das Endspiel 2005 als Spieler des FC Liverpool selbst erlebt: Was bedeutet Profis diese Paarung?

Das ist der größte Titel, den du im Vereinsfußball gewinnen kannst. Aber: The winner takes it all. Es ist wunderbar, im Finale zu stehen – aber weniger wunderbar, das Finale zu verlieren. Ein Marco Reus oder ein Mats Hummels sind zum zweiten Mal dabei, einige zum ersten Mal. Vielleicht bekommst du diese Chance nie wieder.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an das Finale 2005 in Istanbul denken, das 6:5 nach Elfmeterschießen über den AC Mailand endete?

Du zählst die Tage runter und hoffst, dass die so schnell wie möglich vergehen. Weil es das größte Spiel der Saison ist. Wenn du in die Stadt kommst und an jeder Hausecke die großen Banner hängen, die auf das Spiel hinweisen, steigt die Spannung von Stunde zu Stunde. Beim Training im Stadion einen Tag vorher kannst du diese Spannung fast schon greifen.

+++ BVB im Champions-League-Finale: Blamage für Hamann perfekt +++

Am 1. Juni stehen sich Real Madrid und Borussia Dortmund im Londoner Wembleystadion gegenüber. Worauf kommt es für Real Madrid an? Der BVB ist ja eher ein unerwarteter Gegner.

Das ist er mit Sicherheit. Für Madrid wird es ein schmaler Grat sein zwischen Selbstsicherheit und sich etwas zu sicher zu fühlen. Die spielen mit großem Vertrauen in ihre Leistungsstärke und verfallen nie in Panik. Antonio Rüdiger hat sich zum Abwehrchef in der Nationalmannschaft gespielt und in Madrid diese Position sein Eigen gemacht. Zu Toni Kroos muss ich eigentlich nichts mehr sagen: Wie er die schnellen Spieler Rodrygo und Vinicius jr. in Szene setzt, wenn er viel Raum hat, ist wunderbar. Aber: Real hat in allen Runden jetzt das Glück schon etwas zu weit strapaziert, wahrscheinlich mehr als die Dortmunder. Gegen City haben sie aufopferungsvoll gekämpft, da haben sie eine andere Seite gezeigt.

Was meinen Sie damit konkret?

Normalerweise drängt Real andere Mannschaften in die Defensive. Gegen City mussten die Madrilenen fast über 120 Minuten ihr eigenes Tor verteidigen. Sie haben gezeigt: Wenn sie das müssen, können sie das auch. Die Frage wird sein, ob sie diese Aggressivität, die sie zu Hause gegen Bayern gezeigt haben, noch mal aufs Feld bringen können. Wenn nicht, glaube ich: Dortmund wird Real das Leben sehr schwer machen.

Mehr News und Hintergründe zum BVB

Wie sehen sie die Chancen von Borussia Dortmund?

Ohne an die Grenzen zu gehen, wird das nichts. Aber das hat der BVB mehrmals gemacht in dieser Saison. Wenn sie sich 90 Minuten lang aufopfern, füreinander da sind – und das hätten sie gegen Paris nicht besser machen können –, bin ich sehr guter Dinge, dass sie auch Real Madrid packen.

BVB: Hamann lag bei Champions-League-Prognose daneben

Borussia Dortmund wurde im Laufe der Saison besser, es gab aber auch Tiefen in der Saison. Sie hatten dem BVB damals das Champions-League-Gruppenaus prognostiziert. Bereuen Sie diese Einschätzung?

Das würde ich heute genauso wieder sagen, denn es war nach dem zweiten Spiel. Die Borussen hatten das erste verloren und das zweite zu Hause unentschieden gespielt. Sie hatten einen Punkt und das Auswärtsspiel gegen Newcastle vor der Brust. Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass die Dortmunder drei Spiele gewinnen und am Ende noch Gruppenerster werden. Ich hätte damals wahrscheinlich schon den dritten Platz für den BVB unterschrieben, mit dem sie in die Europa League gegangen wären. Aber dieser Kraftakt war sensationell.

Was hat Ihnen zu diesem frühen Zeitpunkt am BVB-Spiel nicht gefallen, dass Sie eine mögliche Wende bezweifelten?

Erst mal, dass sie drei herausragende Mannschaften in der Gruppe hatten. Mit Newcastle United die Mannschaft aus England, die im Kommen ist. Mit Paris St.-Germain ein absolutes Starensemble. Ich wusste, dass es psychologisch eine schwierige Saison werden würde. Weil dieses Mainz-Spiel am letzten Spieltag der letzten Saison und die vergeigte Meisterschaft dich länger verfolgen wird als nur den Urlaub über. Weil du eine einmalige Gelegenheit ausgelassen hast. Dortmund hat zu Saisonbeginn gewonnen, aber nicht gut gespielt. In einer schwächeren Phase waren sie nicht konstant genug für ordentliche Leistungen. Wenn du dann gegen Newcastle und Paris – vergessen wir die AC Mailand nicht – nicht am Limit spielst, ist es fast unmöglich, die zu schlagen.

Würden Sie sich im Nachgang beim BVB entschuldigen?

Entschuldigen? Wofür?

Oder zumindest etwas zurückrudern und anerkennen, wie der BVB sich da rausgekämpft hat?

Die Leistung anzuerkennen, habe ich mehrmals gemacht. Die Gruppe zu gewinnen, war eine herausragende Leistung. Und noch mal: Das würde ich heute wieder so sagen. Weil ich es nicht für möglich gehalten habe, dass sie Zweiter werden. Was dann anschließend in der K.o.-Phase etwas geholfen hat, war das Heimreicht in den Rückspielen. Die Leistung gegen Paris war sensationell. Mit welchem Hunger, Leidenschaft und Willen die Mannschaft ihr eigenes Tor verteidigt hat, war herausragend.

BVB gelingt die Wende: „Sancho kann Unterschied ausmachen“

Dortmund hat sich gesteigert, was hat sich verändert im Laufe der Saison?

Also erst mal, dass Jadon Sancho ein anderer Spieler ist. Als er in der Winterpause zum BVB kam, hat er immer wieder aufblitzen lassen, dass er zu Geniestreichen noch in der Lage ist. Aber gegen Paris hat er zweimal über 90 Minuten ein herausragendes Spiel gemacht. Sancho kann den Unterschied ausmachen – auch gegen Real Madrid. Dann kommt auch noch Adeyemi ins Laufen. Dortmund ist eine richtig gute Mannschaft, die großes Vertrauen in die Verteidigung hat, bei der Füllkrug seine Rolle supergut ausgefüllt und die Bälle festmacht.

Bekommt Marco Reus seinen letzten großen Auftritt als BVB-Spieler?

Auch als Einwechselspieler ist Marco Reus immer noch in der Lage, aus dem Nichts eine Torchance zu kreieren. Nicht mehr in der Fülle wie früher, aber natürlich kann und wird er eine wichtige Rolle in London spielen. Du brauchst diese Identifikationsfiguren. Selbst wenn Marco Reus nur auf der Bank sitzt, gibt das jedem anderen Spieler Selbstsicherheit. Er hat leider nie die Meisterschaft gewonnen. Darüber kann er aber einfacher hinwegsehen, sollte er jetzt die Champions League gewinnen. Das wäre natürlich die Krönung einer fantastischen Karriere.

Was sagt die Achterbahnfahrt in dieser Saison über den Trainer Edin Terzic aus?

Wenig. Nach dem Nackenschlag gegen Mainz vergangene Saison dachte ich: Er verliert die Mannschaft. Das hat er aber nicht. Dass es psychologisch eine schwierige Saison werden würde, war klar. Ich habe den BVB nicht als Meisterschaftskandidaten gesehen. Aber: In der Champions League musst du nicht die beste Mannschaft sein, um zu gewinnen. Um Meister zu werden, musst du schon die beste Mannschaft sein.

Hat sich Terzic dafür empfohlen, auch in der nächsten Saison an der Seitenlinie zu stehen?

Edin Terzic hat das wunderbar gemacht und sich in schweren Phasen auch immer wieder vor die Mannschaft gestellt. Das Vertrauen in die Spieler bekommt er von ihnen jetzt zurück. Auch wenn Dortmund in dieser Saison nur Fünfter wird: Man darf nicht vergessen, dass Stuttgart und Leverkusen eine herausragende Saison spielen. Deswegen steht für mich außerhalb jeder Diskussion, dass Terzic Trainer bleibt.

Der BVB durfte den Einzug ins Finale der Champions League feiern.
Der BVB durfte den Einzug ins Finale der Champions League feiern. © Ralf Ibing /firo Sportphoto | Ralf Ibing

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat gerade seinen Kader für die Heim-EM bekanntgegeben. Mit Dortmundern, mit Madrilenen. Was macht dieses Champions-League-Finale mit den Nationalspielern?

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du machst das für die Fans, für den Verein. Du kannst in Wembley deine Karriere krönen. Ich glaube, dass die Nationalmannschaft da kaum in den Köpfen der Spieler sein wird.

BVB im Finale der Champions League: Gut für Stimmung im Land

Der BVB steht in der Königsklasse im Finale, Bayern München war im Halbfinale. Dazu noch Bayer Leverkusen im Endspiel der Europa League. Können diese Euphorie und vielleicht auch Titel der Nationalmannschaft einen Schub geben für die EM?

Ja, absolut. Diese Erfolge sind für den Fußball natürlich gut – und auch für die Stimmung im Land. Die Dortmunder können sagen: Na ja, wir wurden schlecht geredet von allen, aber jetzt sind wir wieder da. Klar, das sind alles Momentaufnahmen. Dennoch sollte das Abschneiden der Bundesligisten international der Nationalmannschaft bei der EM helfen.