Dortmund. Weltmeister Jürgen Kohler spricht über die Unterschiede zwischen Borussia Dortmund und Bayern München – und die Schwäche der Bundesliga.
Seit einigen Tagen hat es Jürgen Kohler praktisch verbrieft: Er gehört zu den Legenden des deutschen Fußballs, in der vergangenen Woche wurde er in die Hall of Fame aufgenommen. „Das macht mich natürlich stolz, aber es hätte ruhig früher kommen können“, sagt der 56-Jährige und lacht. Und dann spricht der Weltmeister von 1990 über das anstehende Topspiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München am Samstag (18.30 Uhr/Sky). Kohler hat für beide Klubs gespielt und auch heute noch eine klare Meinung über die Vorgänge in der Liga. Ein Interview über die Unterschiede zwischen dem BVB und Bayern, die Hoffnung auf ein spannendes Titelrennen – und die Frage, ob das Spitzenspiel der Liga guttut.
Herr Kohler, das Spitzenspiel steht an. Auch für Sie ein besonderes Spiel?
Jürgen Kohler: Nicht unbedingt. Beide Klubs spielen mindestens zweimal im Jahr gegeneinander, so besonders ist es also nicht. Natürlich treffen aus meiner Sicht die beiden besten Mannschaften der letzten zehn Jahre aufeinander. Aber es ist eigentlich auch ein Armutszeugnis für die Bundesliga, dass das immer das Spitzenspiel ist, dass fast immer die die gleichen zwei Mannschaften oben stehen und es kaum Abwechslung im Titelkampf gibt.
Gibt es eine Mannschaft, der sie die Daumen drücken?
Kohler: Ich schaue Spiele immer neutral und präferiere keinen – auch wenn sich ein größerer Teil meiner Karriere natürlich in Dortmund abgespielt hat und ich dort tolle Geschichten erlebt habe. Ich hatte und habe eine ganz besondere Verbundenheit zu den Zuschauern dort.
In diesem Jahr sind der BVB und Bayern nur einen Punkt auseinander. Glauben Sie, dass Dortmund eine realistische Chance hat, bis zum Ende mit den Bayern mitzuhalten?
Kohler: Ich hoffe, dass die Situation an der Spitze so spannend bleibt, wie sie aktuell ist. Ich wünsche mir aber auch, dass noch ein paar Mannschaften mehr in den Titelkampf eingreifen können. Das würde auch das Produkt Bundesliga ein Stück aufwerten. Wenn die Bayern jetzt wieder Meister werden, ist es zwar schön für sie und sie haben es sich natürlich verdient – aber es ist auch langweilig. Diese Vorherrschaft tut der Liga nicht gut. Man sieht ja jetzt auch, dass der BVB in der Champions League gescheitert ist. Das hätte in dieser Gruppe nicht passieren dürfen. Dadurch wird die Lücke noch einmal größer, weil viel Geld verloren geht.
Allerdings hat der FC Bayern im Pokal 0:5 gegen Gladbach verloren und kürzlich in der Liga 1:2 gegen Augsburg. Ist der Rekordmeister verwundbarer als in den Vorjahren?
Kohler: Die Bayern haben ein paar Leistungsträger verloren, das wird gerne übersehen. In meinen Augen war der wichtigste Defensivspieler David Alaba, der nun bei Real Madrid stark aufspielt. Und Boateng war, wenn er fit war, der kongeniale Partner. Diesen Mix haben die Bayern aktuell noch nicht gefunden. Dayot Upamecano hat viel Potenzial, macht aber zu viele Fehler. Auch Lucas Hernandez hat noch ein paar Defizite, zudem sehe ich ihn eher als linken Verteidiger. Niklas Süle hat nach zwei Kreuzbandrissen eine Weile gebraucht, um den Anschluss wieder zu finden. Leon Goretzka ist immer mal wieder angeschlagen, bei Joshua Kimmich gab es diese Corona-Geschichte. Da läuft hinten noch nicht alles rund. Vorne aber schon, da haben sie noch immer mehr Qualität als die Dortmunder.
Das Thema Kimmich, der sich nicht hat impfen lassen, hat viel Unruhe hereingetragen. Wie wirkt sich das auf eine Mannschaft aus?
Kohler: Zunächst muss man Joshuas persönliche Entscheidung respektieren. Auf der anderen Seite gibt es Spezialisten und Experten, die sich für die Impfung aussprechen. Und Bayern kann nur erfolgreich sein, wenn die besten Spieler zur Verfügung stehen. Das muss man den Spielern auch klarmachen. Das Thema beschäftigt eine Mannschaft natürlich, weil es den gemeinsamen Erfolg gefährdet, wenn Spieler immer wieder in Quarantäne müssen. Aber man sollte da nicht immer nur auf den Fußball zeigen, das Problem haben wir in vielen Bereichen.
Blicken wir aufs Spiel am Samstag. Was sind denn die wesentlichen Unterschiede zwischen Dortmund und Bayern?
Kohler: Manuel Neuer und Robert Lewandowski.
Das war es schon?
Kohler: Die Bayern haben mehr Spieler, die eine Partie auch mal mit einer Aktion entscheiden können. Neben Lewandowski und Neuer, die seit Jahren Weltklasse verkörpern, haben sie noch Thomas Müller, der für die Spielweise und die Kommunikation sehr wichtig ist. Dann gibt es Goretzka, der sich positiv entwickelt hat und einen Kimmich, der immer gewinnen will. Der hat allerdings auch noch das eine oder andere Defizit und ist noch kein Weltklassespieler. Er ist erst auf dem Weg dahin, er wird immer wieder Spiele haben, in denen er mittelbar oder unmittelbar die Schuld an Gegentoren trägt. Alphonso Davies kommt wieder besser in Form. Die Bayern haben einfach eine größere Auswahl an Spielern, die Spiele entscheiden können.
Sie haben Lewandowski schon angesprochen, auch Erling Haaland ist ein herausragender Stürmer. Sie waren ein Weltklasseabwehrspieler und können daher vielleicht sagen: Wie stoppt man diese Spieler?
Kohler: Erst einmal musst du viel über deine Gegenspieler wissen: Muss man nah dran gehen und Körperkontakt suchen oder lieber auf Wege in die Tiefe achten? In welche Räume gehen sie, was ist der starke Fuß, welche Bewegungen machen sie, wie werden sie angespielt, in welchen Positionen fühlen sie sich am wohlsten? Und wie agiere ich als Defensivspezialist dagegen? Zurzeit habe ich schon das Gefühl, dass die Abwehrspieler generell – nicht nur in der Bundesliga – nur noch reagieren und gar nicht mehr agieren. Das defensive Eins-gegen-eins ist ein wenig verlorengegangen, weil nur noch von Systemen und Abläufen gesprochen wird, vom Doppeln und dem Zustellen von Räumen.
Sie vermissen die Grundlagen des Abwehrspiels?
Kohler: Ja. Abwehrspieler nennt man ja deshalb so, weil sie etwas abwehren müssen, nicht weil sie etwas aufbauen müssen. Aber das Selbstverständnis ist anders geworden, der Innenverteidiger ist inzwischen ja fast schon der Spielmacher, er muss ein gutes Auge haben und super Pässe spielen – und dazu kopfball- und zweikampfstark sein. Zudem wird nur noch verschoben und Räume zugestellt, weil das modern sein soll. Ich bin da bei Otto Rehhagel: Modern ist man immer dann, wenn man das Spiel gewinnt.
Die Defensive ist auch beim BVB ein heiß diskutiertes Thema, nach 13 Bundesligaspielen gibt es schon 19 Gegentore. Was läuft da schief in der Abwehr?
Kohler: Es geht ja nicht nur um die Abwehr. Nennen Sie mir doch einmal im Mittelfeld einen, der richtig stark im Eins-gegen-eins verteidigt. Jude Bellingham, wenn er einen guten Tag hat. Aber der ist noch sehr jung, erst 18, da darf man das gar nicht konstant erwarten. Da fehlt einfach Erfahrung in engen, wichtigen Spielen. Die jungen Spieler müssen von gestandenen Spielern geführt werden. Wir hatten damals sehr viele Nationalspieler in der Mannschaft.
Die gibt es doch aktuell auch.
Kohler: Aber wer ist wirklich tragender Nationalspieler in seinem Land? Marco Reus ist das nicht, Mats Hummels ist das nicht, Axel Witsel und Emre Can auch nicht. Dabei sind die genau geholt worden für so enge Spiele. Die holt man ja nicht, um gegen Bielefeld oder Greuther Fürth zu gewinnen, sondern für Spiele gegen Bayern München oder in der Champions League. Aber da machen auch die gestandenen Spieler zu viele Fehler und deswegen sind sie auch zurecht aus der Champions League ausgeschieden. Das ist aber nicht erst in diesem Jahr ein Dortmunder Problem. Letztes Jahr haben sie zwar den Pokal gewonnen, aber die Zeit unter Edin Terzic wird oft verklärt. Sie haben sich ja nur mit viel Mühe für die Champions League qualifiziert. Sie haben keinen überragenden Fußball gespielt, sondern sehr zweckmäßig, hatten in engen Spielen auch mal Glück – und die Konkurrenz hat geschwächelt.
Bei Marco Rose dagegen gibt es schon kritische Stimmen.
Kohler: Das kann ich nicht nachvollziehen. Man hat ihn geholt, weil man von ihm überzeugt war und weil er in Gladbach gute Arbeit geleistet hat. Am Ende ist Gladbach zwar abgerutscht, aber das lag natürlich daran, dass Roses Abschied bekannt wurde. Da kannst du noch so viel mit den Spielern reden, wenn dann ein, zwei Niederlagen kommen, gibt es eine Dynamik, die du gar nicht aufhalten kannst. Daran ist nicht der Trainer schuld, da müssen sich auch mal die Spieler hinterfragen. Aber das macht ja heutzutage keiner mehr.
Auch der FC Bayern hat einen neuen Trainer. Wie bewerten Sie Julian Nagelsmanns Arbeit?
Kohler: Julian ist ein junger, guter Trainer, der sehr viele Ideen hat. Die Bayern haben den Vertrag auf fünf Jahre angelegt – das zeigt, dass sie einen langen Weg mit ihm gehen wollen. Aber am Ende wird auch Julian daran gemessen, ob er Titel gewinnt, das ist bei Bayern München einfach so. Egal wie gut Sie fachlich oder menschlich sind, das haben auch schon deutlich erfahrenere Trainer zu spüren bekommen.
Die Bayern stecken in einem gewaltigen Umbruch. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge sind abgetreten, Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic sind die neuen Führungsfiguren. Kann das eine Chance für die Konkurrenz sein, wieder heranzurücken?
Kohler: Die Fußstapfen der beiden sind natürlich gigantisch groß. Aber solange Uli und Kalle noch fit und bei Verstand sind, werden sie den handelnden Personen sicher mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das ist ja ihr Lebenswerk und darum kümmert man sich. Bayern München ist ja inzwischen eine Marke, ein Mythos, wie Real Madrid und der FC Barcelona. Der Klub hat ein gewisses Flair, eine Aura und weltweite Strahlkraft.
Herr Kohler, meine letzte Frage wäre…
Kohler: 2:2. Das wäre doch ein schönes Ergebnis für beide Mannschaften und würde die Spannung noch eine Weile erhalten.