Dortmund. Beim BVB drängen viele junge Spieler in eine Hauptrolle. Für Trainer Favre bedeutet dies einen Spagat zwischen goldener Zukunft und Gegenwart.

Die Antwort überraschte die Umstehenden durchaus. Ob er denn jemals zuvor als Profitrainer mit derart jungen, derart guten Spielern gearbeitet habe, war Lucien Favre gefragt worden. „Ja“, antwortete der Trainer von Borussia Dortmund, „bei Servette Genf.“ Kurz nach der Jahrtausendwende war Favre Trainer des Schweizer Erstligisten, und in seiner Mannschaft kamen einige 16 oder 17 Jahre alte Spieler auf respektable Einsatzzeiten: Yves Miéville, Thierno Bah oder Philippe Senderos. Letztgenannten führte seine Karriere später immerhin zum AC Mailand, FC Arsenal und FC Valencia.

Aber ein derart großes Rudel Hochbegabter wie derzeit in Dortmund hat auch Favre in seiner langen Trainerkarriere noch nicht angeführt. Und selbst für den BVB, der es zum Geschäftsmodell erhoben hat, junge Spieler zu entdecken und zu entwickeln, ist es neu, dass gleich mehrere Teenager derart vehement in eine Hauptrolle drängen.

Da ist Giovanni Reyna, 17 Jahre alt. Weil er zu den Jüngsten gehört, trägt er nach dem Training ganz selbstverständlich Bälle oder Tore vom Platz. In den Testspielen aber trägt er: Verantwortung. Reyna hat sich mit starker Technik, Spielverständnis und einer für sein Alter erstaunlichen Ruhe vor dem Tor als erster Anwärter auf die Spielmacherposition etabliert. Mindestens einmal, bis Kapitän Marco Reus wieder fit ist – möglicherweise aber sogar noch länger, denn Trainer Favre ist schon lange Fan des US-Amerikaners. Und auch Michael Zorc ist voll des Lobes: „Gio hat außergewöhnliche Fähigkeiten, das haben wir oft genug betont“, sagt der BVB-Sportdirektor. „Er ist immer noch 17, er wird sich also noch weiter verbessern. Aber er ist schon unheimlich weit für sein Alter und er entwickelt sich wirklich zu einer spielbestimmenden Figur.“

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BVB-Trainer Favre schwärmt von Bellingham

Reyna könne „ein großer Star werden“, schwärmt Axel Witsel (31), der im Mittelfeld neben einem weiteren Jungspund auflaufen dürfte: Jude Bellingham.

Der 17-Jährige ist für die Ablöse in Höhe von 24 Millionen Euro vom englischen Zweitligisten Birmingham City gekommen. Und nach nicht mal einem Monat Zusammenarbeit ist Favre regelrecht begeistert von der Ballsicherheit und Zweikampfstärke des Engländers, erst recht aber von dessen Gespür für Raum und Zeit. „Es ist wichtig, dass wir Mittelfeldspieler haben, die das Spiel beschleunigen können, die ins Dribbling gehen und den letzten Pass spielen“, meint der Trainer.

Einer ist sogar noch einmal deutlich jünger als Reyna und Bellingham: Youssoufa Moukoko gehört seit dieser Saison fest zum Profikader, obwohl er erst ab dem 20. November spielberechtigt sein wird – dann nämlich wird er 16. Im Training beeindruckt der Mittelstürmer seine Mitspieler schon jetzt mit seinem Torriecher und seiner Abschlussstärke. „Ich glaube, ich habe noch nie so einen guten 15-Jährigen gesehen“, meint Haaland, der ja selbst erst 20 ist – und trotzdem als Torgarant vom Dienst schon eine zentrale Rolle in sämtlichen Planungen einnimmt. Genau wie Jadon Sancho (20): Der Außenspieler ist wichtigster Mann in der Offensive, weil er mit schnellen Dribblings Lücken in dichtgestaffelte Abwehrreihen reißen kann. „Er kann der Spieler sein, der in vielen Spielen den Unterschied ausmacht“, erklärt Abwehrchef Mats Hummels.

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Auch BVB-Talente Knauff und Pherai punkten

Der BVB baut auf seine jungen Spieler, auch Ansgar Knauff (18) und Immanuel Pherai (19) sammelten zuletzt Pluspunkte und kommen zumindest als Ergänzungsspieler in Betracht, die der Klub in einer kraftraubenden Saison brauchen wird.

An Talent und Potenzial der vielen Begabten zweifelt niemand. Doch wie sieht es mit der mentalen Stärke auch? Zuletzt zerbrach der Traum vom Titel mehrfach auch daran, dass die Mannschaft in den großen, den entscheidenden Spielen der Situation mental nicht gewachsen war – anders als beim FC Bayern, wo die Spieler solche Situationen zur Genüge kennen.

Solche Erfahrungen fehlen den Dortmunder Talenten noch. Und wie es um ihre mentale Stärke wirklich steht – das muss sich erst im Ernstfall zeigen.