Essen. Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus bezeichnet Borussia Dortmund vor dem Top-Spiel gegen den FC Bayern als Favorit. Ein Interview.

Wie ganz Fußball-Deutschland fiebert auch Lothar Matthäus dem Bundesliga-Topspiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München am Samstag (18.30 Uhr/Sky) entgegen. Im SID-Interview schwärmt der Rekordnationalspieler und Sky-Experte vom BVB, kritisiert die Führungsriege des Rekordmeisters und verrät, warum er trotzdem an einen Münchner Sieg glaubt.

Lothar Matthäus, warum geht Borussia Dortmund als Favorit in das Duell mit Bayern München?

Lothar Matthäus: Weil sie beeindruckend gespielt haben in dieser Saison, auch international, stabil und attraktiv. Dortmund hat im Sommer die richtigen Veränderungen vorgenommen, auf dem Platz und außerhalb. Viele haben ja gelacht oder zumindest geschmunzelt über die Verpflichtung von Matthias Sammer oder Sebastian Kehl, aber da ist hoher Sachverstand dazugekommen. Und auf dem Platz haben sie jetzt einige Leader.

Welchen Anteil hat Trainer Lucien Favre?

Matthäus: Favre hat die Mannschaft richtig zusammengestellt, das richtige System gefunden, die richtige Position für jeden einzelnen Spieler und die Balance zwischen Offensive und Defensive. Marco Reus spielt wie unter Favre in Gladbach im Zentrum, das ist ein entscheidender Faktor. Mit Axel Witsel hat er seinen Königstransfer gemacht, der für die Mannschaft ein Taktgeber ist, das hat bei Dortmund in den letzten Jahren kein Spieler so hinbekommen wie er. Außerdem setzt Favre auf junge, schnelle Spieler, die talentiert und körperlich stark sind. Das ist ein hervorragender Mix. Dazu kommt eine sensationelle Harmonie.

Anders als bei den Bayern.

Matthäus: In Dortmund freuen sich die Ersatzspieler mit. Wenn sie reinkommen, sind sie sofort integriert. Und die, die ausgewechselt werden, verlassen anders den Platz als es zum Beispiel Franck Ribery oder Arjen Robben beim FC Bayern tun. In Dortmund beschwert sich kein Mario Götze oder Christian Pulisic nach außen, wenn er mal auf der Bank sitzt. Bei Bayern ist das mit Robert Lewandowski oder James passiert. Für den Teamgeist ist das tödlich.

Beobachten Sie bei Reus auch einen Reifeprozess?

Matthäus: Klar, er ist jetzt Kapitän, wird Vater. Er ist Mann geworden, stabil geworden im Leben. Vor vier, fünf Jahren hat er vieles noch lockerer gesehen. Er ist das Gesicht des BVB geworden, deshalb hat ihm sein Ausrüster Puma auch so einen langfristigen Vertrag gegeben. Auch so etwas stärkt dich, dass du siehst, dass du zu den Großen zählst. Und er fühlt sich bei Favre sehr wohl.

Welche Rolle spielt Sammer?

Matthäus: Matthias ist ein Querdenker und ehrgeizig. Er dreht wie Favre den kleinsten Stein um. Er geht ins Detail, dass man sagt, irgendwann ist mal Schluss - aber nicht bei Sammer oder Favre. Ich fand die Idee mit Sammer und Kehl von Anfang an gut, dass jemand frischen Wind reinbringt. Aki Watzke und Michael Zorc sind gefühlt ein ganzes Leben dabei, sie verlieren vielleicht den Blick für die Kleinigkeiten. Als Neuer siehst du das. Deswegen sind Sammer und Kehl Glücksgriffe.

Der FC Bayern gibt zu all den von Ihnen angesprochenen Punkten ein Gegenbild ab.

Matthäus: Absolut. Nicht nur vom Durchschnittsalter der Mannschaft her. Man merkt beim FC Bayern jetzt, dass man einen Umbruch versäumt hat. Dass man auch in der Chefetage einen Jüngeren hätte einbauen sollen mit größerer Verantwortung als sie Hasan Salihamidzic hat. Die Entscheidungen im Sommer waren nicht so supertoll wie bei Borussia Dortmund.

Hätten Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß nicht längst mehr Verantwortung abgeben müssen?

Matthäus: Absolut. Sie hätten sich ja keinen Zacken aus der Krone gebrochen, wenn sie einen Mann wie Philipp Lahm oder Oliver Kahn dazugeholt hätten. Sie haben das Unternehmen FC Bayern 30 Jahre und mehr auf höchstem Niveau geführt, sportlich wie wirtschaftlich, und haben weiter großen Einfluss. Aber sie sollten ein bisschen mehr auf den Nachwuchs hören. Auf einen wie Kehl in Dortmund, der eine andere Sichtweise hat und Dinge sieht, die sie vielleicht nicht mehr sehen können. Das hat der FC Bayern ganz sicher versäumt.

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Warum kann Salihamidzic das nicht leisten?

Matthäus: Vielleicht sind die anderen beiden noch zu stark, lassen nicht so viel zu. Wir alle haben noch die Pressekonferenz in Erinnerung, als ihm Karl-Heinz die Frage weggenommen hat. So etwas darf nicht passieren. Wenn eine Frage an einen Mitarbeiter in dieser Position gestellt wird, muss man ihn auch antworten lassen. Sonst tut man sich keinen Gefallen. Auch die Spieler bekommen mit: Hasan hat da oben nicht so viel zu sagen, wie man es eigentlich von einem Sportdirektor erwartet.

Vermissen Sie bei Trainer Niko Kovac eine echte Handschrift?

Matthäus: Wenn das Spiel des FC Bayern der Spiegel der Trainingseinheiten ist, dann ist da ganz sicher einiges versäumt worden. In den letzten Jahren hat es viel besser funktioniert, unter Jupp Heynckes, unter Pep Guardiola, auch teilweise unter Carlo Ancelotti. Das erwarten wir vom FC Bayern, von der Qualität der Spieler, die nach wie vor vorhanden ist. Ich glaube, dass Niko am Anfang ein zu großes Herz gehabt hat und es jedem recht machen, jeden gleich behandeln wollte. Aber zu einer Mannschaft gehört auch eine Hierarchie. Dortmund hat die ganz klar.

Der FC Bayern nicht?

Matthäus: Bei Bayern wüsste ich nicht: Wer ist da der Führungsspieler. Ist es James oder Thiago? Ist es Hummels oder Boateng? Lewandowski, Robben, Ribery? Niko hat alle gleichgestellt. Wer ist der Abwehrchef? Hummels? Der kritisierte Boateng? Oder doch Süle, der eigentlich der beste ist, aber trotzdem zwei Mal hintereinander auf der Bank saß? Das nimmt so eine erfahrene Mannschaft, wie sie der FC Bayern hat, auf. Und wenn dann was nicht passt, wird das zurückgespielt.

Ist dieser Mannschaft, ist Kovac die Wende noch zuzutrauen?

Matthäus: Ja, weil der FC Bayern den Schalter immer umlegen kann. Für die Bayern ist es jetzt eine Frage der Ehre, eine Charaktersache. Wenn sie wieder ein Miteinander entwickeln, kann es funktionieren. Ich bin davon überzeugt, dass sie gewinnen werden, weil sie mehr Erfahrung haben, mehr Qualität und Riesendruck. Aber wenn man die letzten Spiele sieht, spricht vieles für Borussia Dortmund. Sie sind dem FC Bayern zwei Schritte voraus. (sid)