Bad Ragaz. Nationalspieler André Schürrle geht in sein zweites Jahr bei Borussia Dortmund. Ein Gespräch über Selbstkritik, Selbstvertrauen und Mario Götze.

  • Nationalspieler André Schürrle geht in sein zweites Jahr bei Borussia Dortmund
  • Ein Gespräch über Selbstkritik, Selbstvertrauen und Mario Götze
  • Das Interview mit André Schürrle

André Schürrle schlendert durch das Foyer des Teamhotels in Bad Ragaz, nimmt in den tiefen Polstern eines Sofas Platz. Im Fenster hinter ihm erheben sich die Berge der Schweizer Alpen, vor ihm liegt eine neue Chance: Trainingslager, Vorbereitung, Grundlagen für eine gute Saison schaffen. Der Profi von Borussia Dortmund atmet durch. Angekommen zum Interviewtermin. Und sonst?

Fühlen Sie sich nach einem Jahr angekommen in Dortmund?

André Schürrle: Angekommen zu sein, ist ein Begriff, der schwer ist zu benutzen, wenn man eine sportlich schwierige Saison hinter sich hat. Ich habe mich vom ersten Tag an wohlgefühlt in der Stadt, im Verein, in der Mannschaft - und das ist auch immer noch so. Trotzdem ist Ankommen für mich auch immer mit sportlichem Erfolg in Verbindung zu bringen. Und der war, bei allem Erfolg der Mannschaft, für mich persönlich leider nicht so da. Das macht es für mich schwer, davon zu sprechen, schon komplett angekommen zu sein. Sportlich bin ich noch etwas schuldig.

Was sind die Gründe für diese Saison?

André Schürrle (l.) im Gespräch mit Daniel Berg.
André Schürrle (l.) im Gespräch mit Daniel Berg. © Alex Gottschalk / DeFodi.de

André Schürrle: Ich bin ein Mensch, der die Fehler zuerst bei sich sucht, der sehr viel reflektiert und nachdenkt. Deswegen kann ich nur über mich sprechen. Ich habe gut angefangen, ich war extrem motiviert. Ich wollte in einem so großen Verein mit so vielen Fans direkt etwas zeigen. Meine ersten Spiele waren top, dann war ich verletzt, kam gegen Real Madrid zurück mit einem Tor, das mir das Gefühl gegeben hat, vielleicht schon angekommen zu sein. In dem Spiel habe ich mich wieder verletzt und habe von da an nie mehr so wirklich in die Mannschaft gefunden.

Warum?

André Schürrle: Ich hatte Schwierigkeiten mit mir selbst. Es war mental nicht leicht, weil ich gemerkt habe, dass ich hinten dran bin, dass die Mannschaft eingespielt ist. In dieser Zeit habe ich viel auch mit mir selbst ausmachen müssen. Ich hatte dann eine gute Vorbereitung im Winter, habe direkt zweimal gespielt, ein Tor gemacht, eine Vorlage gegeben. Umso unglücklicher war es für mich, dass ich trotzdem wieder rausgenommen wurde. Dadurch kamen die Zweifel prompt wieder. Ich habe mit mir gehadert – ehe ich mich wieder verletzte.

Wie sieht das aus, wenn Sie viel mit sich selbst ausmachen?

André Schürrle: Ich stelle vieles infrage, mich selbst logischerweise auch. Wenn man mich kennenlernt, merkt man, dass ich ein tiefgründiger Mensch bin. Das bedeutet, dass ich viel über die Dinge nachdenke, über mich, was ich will, was noch kommen kann. Das mache ich mit mir selbst aus, aber natürlich auch in Gesprächen mit meinen Nächsten, meiner Freundin und meiner Familie. Das Letzte, was man als Fußballer will, ist, nicht so gut dazustehen: bei den Fans, in den Medien oder in der allgemeinen Wahrnehmung. Da versucht man, sehr viele Dinge umzustellen. Manchmal ist das sinnvoll, oft aber auch schon der erste große Fehler.

Mehr Gelassenheit würde helfen?

André Schürrle: Einerseits ja. Wenn ich mir einige unserer jungen Spieler im Team ansehe, dann glaube ich nicht, dass sie sich nach ein paar Spielen, die nicht so riesig waren, groß einen Kopf machen. Jeder Typ ist aber anders, und nichts davon ist per se besser oder schlechter. Ein gutes Stück Gelassenheit steckt auch in mir. Ich weiß: Ich habe schon viel erreicht, ich habe ein gewisses Standing. Aber ich glaube, dass eine Person wie ich ohne dieses Verbissene und Kämpferische zu Nachlässigkeiten neigen würde. Dann wäre es für mich erst recht schwer, da zu sein, wo ich sein will und sein kann. Von daher ist es schon ganz gut so wie es ist.

Ist Gelassenheit auch eine Frage des Alters?

André Schürrle: Total. Als ich mit Mainz an der Eckfahne meine Luftgitarre gespielt habe (damaliger Torjubel, d. Red.), habe ich mir auch keine Gedanken gemacht, da habe ich als 19- oder 20-Jähriger 15 Tore gemacht in der Bundesliga und fünf Vorlagen gegeben. Ich war der Shootingstar, alles lief. Man fängt erst an, sich kennenzulernen, wenn es mal Kritik gibt. Dann setzt man sich mit sich selbst auseinander: Wie ist die Einstellung zum Beruf? Was will ich? Wie lange will ich das machen?

Woher kommt diese ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkritik?

André Schürrle: Mir ist schon klar, dass man in einer Mannschaftssportart bis zu einem gewissen Grad auch von den Teamkollegen und dem Trainer abhängig ist und Selbstkritik auch endlich sein muss. Aber man hat mir das eben so beigebracht. Wenn man als junger Spieler wie ich damals in Mainz oder Leverkusen auf Wolke sieben schwebt und denkt, einem gehört die Welt, dann muss dich dein Umfeld oder der Trainer runterholen und hinterfragen, ob wirklich alles super ist. Ich bin unglaublich froh über alles, was mir passiert ist - auch über ein eher negatives Jahr wie das vergangene. Auch diese Saison hat mich weitergebracht, vor allem menschlich, weil ich noch mehr über mich gelernt und gemerkt habe, was vielleicht auch neben dem Platz wichtig ist. Von daher versuche ich alles mitzunehmen. So wie es kommt. Das habe ich mir vorgenommen.

Auf so manchen Verlauf haben Sie ja durchaus Einfluss. Bislang haben Sie stets nach zwei Jahren Ihren Klub verlassen. Warum?

André Schürrle: Es steckte jedenfalls kein vorgefertigter Plan dahinter. Aber mein Weg hat auf seine Weise glücklicherweise dazu geführt, dass ich hier gelandet bin. So ein Lebensweg ist abhängig davon, welche Möglichkeiten vorhanden sind und welche Entscheidungen daraus resultieren. Ich habe zu den genannten Zeitpunkten Möglichkeiten gehabt, die ich wahrnehmen wollte. Um ehrlich zu sein: Ich war in Wolfsburg davon ausgegangen, dass ich erstmal eine Mannschaft gefunden habe, in der ich meinen Platz habe. Dann aber kam die Möglichkeit, zu einem der größten Vereine in der Welt zu wechseln. Also bin ich diesen Weg gegangen, voller Überzeugung, die bis heute anhält. Obwohlhätte Gerade für den Kopf ist es nicht einfach, immer wieder neu anzukommen: in einer neuen Mannschaft, in einer neuen Stadt.

Eine Sehnsucht, anzukommen, existiert also schon?

André Schürrle: In gewisser Hinsicht beneide ich manche Spieler, die fünf, sechs Jahre bei einem Verein spielen, die den Klub und alle Personen in- und auswendig kennen, die ein gutes Standing im Verein, bei den Fans, bei den Verantwortlichen haben. Das ist etwas, das einem Spieler und seiner Leistung gut tut. Bei mir hat das noch nicht funktioniert. Aber vielleicht ja jetzt in Dortmund.

Fast 100 Millionen Euro sind für Sie in den vergangenen Jahren als Ablösesummen gezahlt worden. Was bewirkt das?

André Schürrle: Für mich spielt das keine Rolle. Ich habe auch gelesen, was für mich schon bezahlt wurde. Das macht mich auch ein bisschen stolz, weil Ablösesummen heutzutage nun einmal eine Form von Anerkennung der Leistungen ist. Aber viele Fans waren und sind skeptisch. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, den Erwartungen, die aus den Zahlen natürlich auch entstehen, gerecht zu werden. Vor allem, wenn man - wie ich zuletzt - nicht im Vollbesitz seiner Kräfte ist.

Sie hatten wegen der Absage für den Confed-Cup nun einen richtigen Sommer-Urlaub. Wie blicken Sie auf die nächste Saison?

André Schürrle: Es fühlt sich alles gut an. Ich habe in der bisherigen Vorbereitung viel Spielzeit gehabt, was wichtig ist für mich. Seit Mitte April hatte ich kein richtiges Training gehabt, muss jetzt meine Form und körperliche und mentale Fitness finden. Dann kann ich ein sehr guter Spieler für Borussia Dortmund sein.

Wie ist Ihr Kontakt zum neuen Trainer Peter Bosz?

André Schürrle: Wir sprechen viel. Er will, dass ich Verantwortung übernehme. Ich habe ein gutes Gefühl, weil ich gut mit ihm reden kann, das ist mir wichtig. Ich glaube, dass er ein guter Mensch ist, sehr geerdet, sehr ruhig.

In jedem Falle etwas anders als sein Vorgänger. Hatten Sie nach seiner Entlassung noch einmal Kontakt zu Thomas Tuchel?

André Schürrle: Bislang nicht. Wir werden aber auch wieder Kontakt haben. Ich habe immer schon ein gutes Verhältnis zu Thomas Tuchel gehabt, daran ändert auch die vergangene Saison nichts, in der wir unsere Differenzen hatten.

Darüber konnte man erstaunt sein: Schließlich hat er Sie einst in die Bundesliga geholt, Sie mit seiner Unnachgiebigkeit genervt, aber auch entscheidend gefördert.

André Schürrle: Das stimmt. Wenn man die ganze Zeit nur gestreichelt wird und gesagt bekommt, wie toll man alles macht, dann bringt einen das auch nicht weiter. Er hat mir mit dieser härteren Herangehensweise, immer noch mehr zu verlangen, sehr geholfen, als ich jung war. Das werde ich ihm nie vergessen.

Zurück zum Sportlichen: Müssen Sie auch das Vertrauen der Mannschaft zurückgewinnen? Oft geht viel über Ousmane Dembélé auf der rechten Seite.

André Schürrle: Das muss sich wieder finden. Im letzten Test gegen Espanyol Barcelona ging in der ersten Halbzeit gefühlt tatsächlich fast jeder Ball über die rechte Seite. Ich musste den Jungs zeigen, dass ich auch ein paar Bälle brauche. Dann kam auch etwas mehr über links. Ich muss bereit sein, mich anzubieten, auch lautstark zu werden und Verantwortung für den Ball zu übernehmen.

Stimmt es, dass Sie sich sehr für Ihre Spieldaten interessieren?

André Schürrle: Ja, extrem.

Für was genau?

André Schürrle: Alles. Sprints, intensive Läufe, gesamte Laufleistung. Ich mache von den Daten nicht abhängig, ob ich ein gutes Spiel gemacht habe. Dafür hat man auch so ein Gefühl. Aber die Daten sind mir trotzdem wichtig. Die letzten waren extrem gut. Ich bin gegen Bochum 12,5 Kilometer gelaufen, das war glaube ich zuletzt mit 18 der Fall (lacht). Ich bin kein Ousmane Dembélé, der an der Mittellinie losläuft, vier Mann ausdribbelt und etwas Besonderes versucht. Ich bin der geradlinige Typ, der seine Laufwege macht, der für die Mannschaft nach hinten arbeitet. Was bei mir wichtig ist, ist meine Arbeit auf dem Platz. Die war auch letztes Jahr schon gut. Jetzt arbeite ich an der Effektivität in der Offensive.

Wie wichtig ist dabei die Rückkehr von Mario Götze?

André Schürrle: Sehr, sehr wichtig. Ich verstehe mich nicht nur auf dem Platz sehr gut mit ihm. Er weiß, wie er mich anspielen muss, er kennt meine Laufwege. Aber er ist nicht nur für mich wichtig, sondern für die ganze Mannschaft.

In den fünf Monaten seiner Behandlungsphase wegen einer Stoffwechselstörung ist er aus der Öffentlichkeit verschwunden. Hatten Sie immer Kontakt zu ihm?

André Schürrle: Ja, permanent. Zwischen uns hat sich eine große Freundschaft entwickelt. Wir vertrauen uns Dinge an. Ich wusste über seinen Weg Bescheid, wusste, was er macht, was er braucht. Und ich bin sehr froh, dass er nun so zurückgekommen ist.

Wie wirkt er auf Sie?

André Schürrle: Er macht auf mich einen sehr, sehr guten Eindruck. Nach den fünf Monaten braucht er noch Zeit, klar. Aber wir sprechen viel und ich merke, dass er Lust hat, auf dem Platz wieder die Dinge zu probieren will, die seine Frechheit und damit auch seine Genialität als Fußballer ausmachen. Wir sollten noch Geduld haben, aber ich glaube, das kann etwas Gutes werden.

Zu Ihrem Freundes-Zirkel gehört auch Marco Reus. Seit einem Jahr spielen Sie alle im gleichen Klub, wegen Verletzungen nur nie miteinander.

André Schürrle: Doch einmal, glaube ich: in Mainz, 20 Minuten lang. Eigentlich traurig, oder? Wir haben auch schon darüber gesprochen, dass das verrückt ist. Bis Januar oder Februar, wenn Marco nach seiner Verletzung zurückkehrt, wird es erst einmal wieder nichts werden.

Vielleicht ja dann bei der WM im Sommer.

André Schürrle: Das ist der Plan (lacht). Marco wird hoffentlich noch genug Zeit haben, um in Form zu kommen. Eine WM ist immer großartig. Dinge, die schon einmal gut waren, wiederholt man gern. Nur dieses Mal alle zusammen, bitte.