Essen. FUNKE-Sport-Chefredakteur Pit Gottschalk grübelt: Ist Borussia Dortmund ein Titelkandidat? Vor Saisonbeginn hätte er gesagt: “Ja.“ Und jetzt?

  • Borussia Dortmund hat die Krise überwunden
  • Doch ist der BVB jetzt wieder ein Titelkandidat?
  • Ein Kommentar von Pit Gottschalk

Fragt mich @uersfeld auf Twitter doch eiskalt: „Würden Sie das unterschreiben?“ Und schleudert mir seine These zu Borussia Dortmund mit zwei Ausrufezeichen entgegen: „Titelkandidat! Sie hatten ihre Krise bereits!“ Ich, verdutzt und spontan: „Nicht unbedingt.“

Schon begann ich zu grübeln.

Borussia Dortmund und Titelkandidat: Ja, hätte ich vor Saisonbeginn auch gesagt. Wer eine dreistellige Millionensumme in neue Spieler investiert und zwei Weltmeister verpflichtet, kann sich nicht mit der Erwartung auf einen Champions-League-Platz herausmogeln. Mein erster Gedanke.

Der zweite: Ist die Mannschaft zu jung? Sagt der Watzke auch immer: In zwei, drei Jahren — dann könne der BVB zu voller Reife gelangen. Ebenbürtig mit dem scheinbar unbesiegbaren FC Bayern. Jung, nicht ausgereift, dann Verletzungspech: Klingt alles logisch. Aber nicht zwingend.

Deutschland wurde mit einer der jüngsten Turniermannschaften ever Weltmeister. Hurra-Fußball kann Schema F besiegen. Hat Klopp ja zweimal in der Bundesliga bewiesen. Und außerdem: Wo steht geschrieben, dass es eine Altersbeschränkung für Meisterschaften gibt?

Zu Saisonbeginn erkor ich Borussia Dortmund provozierend zum Bayern-Jäger und ermahnte zur Kontinuität: Wenn der Süden sein Tief erlebt, muss im Westen die Sonne aufgehen. Oder so ähnlich. Danach verlor Dortmund mit 0:1 in Leipzig. Ausgerechnet beim Aufsteiger.

Eine weitere Niederlage in Leverkusen und drei Unentschieden folgten im Verlauf der zehn Spieltage, eine kurze Durststrecke ohne Siege. Von einer Mini-Krise war die Rede. Daraus folgert @uersfeld also: Das passiert einmal und nicht wieder — Bayern, wir kommen?

Nun, das Schöne am Fußball ist: Was zählt, ist auf’m Platz. Woche für Woche muss ich meine Prognosen überprüfen, ob sie mit wachsendem Erkenntnisgewinn noch haltbar sind. Man kann die Saison noch so professionell planen: Erst das Spiel offenbart Charakter und Potenzial.

Worauf ich beim Spiel achte: Wie reagiert ein Spieler unter Druck? Wie ändert sich sein Zusammenspiel mit anderen, die ebenfalls unter Druck sind? Fügt sich diese Summe aus Zusammenspielen zu einem Gesamtkunstwerk, das preisverdächtig harmoniert?

Was ich meine: Niemand konnte den Aufstieg von Julian Weigl voraussehen. Er kam aus der Geisterkulisse von 1860 München und sollte plötzlich vor einer Gelben Wand spielen, die alles verzeiht — nur keine Mutlosigkeit und keine schiefen Pässe.

Erst die Realität („Was zählt, ist auf’m Platz“) bewies seine wahre Klasse. Und das umgehend. Bayer-Import Gonzalo Castro, eigentlich versierter und erfahrener, hat fast ein Jahr gebraucht, um zu seinem aktuellen Leistungshoch im Westfalenstadion zu gelangen. Verrrückte Welt.

So blicke ich einzeln und Spieltag für Spieltag auf jeden Neuling: Mor, Dembele, Guirreiro, Bartra, Rode — jeder trägt sein eigenes Päckchen mit sich rum, das er beim BVB schultern muss. Alter. Ablöse. Erwartungshaltung. Sprache. Bayern. Titel hängen davon ab, wie schnell sie schultern.

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Dazu Götze und Schürrle. Auch ihre Formkurven wiesen seit dem WM-Sieg 2014 große Amplituden aus. Mit Reus sollten sie ein Dreieck bilden, das mindestens magisch ist und am besten verzaubernd. Nicht ein einziges Mal konnten die drei bisher miteinander auftreten.

Hinzu kommt eine Komponente: die Leistungskurve. Die wird nicht nur von Verletzungen, Fitnesswerten und Familienstand beeinflusst. Auch vom Kopf. Wir erinnern uns an Hoffenheim, wie die nach dem Aufstieg zur Herbstmeisterschaft stürmten. Dann begannen Spieler zu denken.

Was bedeutet die Meisterschaft für mich? Werde ich adäquat für meine Leistung bezahlt? Kann ich anderswo mehr verdienen? Ach, Hoffenheim ist ja doch sehr klein… Plötzlich war Gift in der Truppe. Sogar Erfolgstrainer Rangnick konnte nicht mehr gegensteuern.

Wie also reagiert die junge Truppe von Borussia Dortmund, wenn der Schnee schmilzt und die Gedanken Richtung neue Saison kreisen? Wird jeder Spieler mit Thomas Tuchels Rotation einverstanden sein? Konkret: Kam Rode nicht zum BVB, weil er immer spielen wollte?

Um es ausdrücklich zu sagen: Das sind alles hypothetische Fragen und die meinen. Aber sie beschäftigen Journalisten, die nach jedem Spiel Erklärungen für die Leistungen von Fußballprofis suchen. Taktik, Statistik, Kader, Strategie: An Erklärungsversuchen mangelt es niemals.

Alle Beurteilungen sind in der Bundesliga auf die eine Fragestellung ausgerichtet: Was kann die Mannschaft? Wenn @uersfeld also die These aufstellt, dass die Krise schon bewältigt und der größte Stoplerstein schon überwunden ist, muss ich ihm halb widersprechen: „nur bedingt“.

Die guten Journalisten unterscheiden sich von den schlechten und von den Besserwissern in den Sozialen Netzwerken dadurch, dass sie Parallelen zu vergleichbaren Fällen herstellen, die Protagonisten des Spiels fragen und eine fachliche Expertise äußern können.

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Natürlich können die Journalisten nicht die absolute Wahrheit beanspruchen. Tun sie auch nicht. Sie sind nur ehrlich bemüht, der Wahrheit, wie es um die Mannschaft bestellt ist, möglichst nahe zu kommen. Fehleinschätzungen nicht ausgeschlossen. Nicht bei mir. Und bei keinem anderen.

Darum schätze ich bei Borussia Hans-Joachim Watzke so. Er verkörpert die Mischung aus Fanbetrachtung und Experten-Insiderwissen. Mit der Nähe zum Inneren der Umkleidekabine sind seine Beurteilungen profund. Wenn er sagt: Die Mannschaft braucht noch Zeit, glaube ich ihm.

Borussia Dortmund Titelkandidat? Kann sein. Muss aber nicht. Ich schaue auf die Tabelle und sehe den BVB auf Platz 5 mit sechs Punkten Rückstand auf Bayern München. Borussia Dortmund Titelkandidat? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.

Mit Pit Gottschalk diskutieren auf http://www.twitter.com/pitgottschalk