Essen. . Im Spiel gegen Österreich am Freitag wird Philipp Lahm seine 100. Partie im Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bestreiten. Was ihm mit der Nationalelf fehlt: Titel. Deshalb tritt er immer fordernder auf.

Auf dem Weg zur Europameisterschaft 2008 in Österreich und in der Schweiz war San Marino für die Nationalmannschaft nicht einmal eine Raststätte mit Restaurant und Kinderspielplatz in Sichtweite. San Marino war ein Parkplatz. Anhalten. Ein paar Dehnübungen. Und weiter im Eiltempo.

Die Hinterlassenschaft der Deutschen wird die von Italien eingekesselten Zwergenstaatler aber noch lange beschäftigt haben. An Niederlagen sind sie grundsätzlich gewöhnt. Dass das Ensemble eines europäischen Riesen sich im September 2006 bei ihnen mit einem 13:0 den höchsten Auswärtssieg seiner Geschichte besorgte, erschütterte sie dennoch.

Weil die Mannen von Bundestrainer Joachim Löw keine Gnade walten ließen. Nicht einmal nach dem Schlusspfiff. Als versucht wurde, Philipp Lahm zu später Stunde auf einer Hubbelwiese am Rande des Fußballfeldes im Stadio Olimpico von Serravalle ein Wort des Mitleides mit dem gastfreundlichen Gegner zu entlocken, reagierte der heftig. Gnade? Mitleid? Oder doch zumindest ein freundlich gemeinter, ein aufbauender Satz? Lahm, damals 22, verstand das Ansinnen nicht.

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Lahm will Wege mit Erfolgsplatten pflastern

Die Weltmeisterschaft im eigenen Land war gespielt. Dass sie mit dem dritten Platz für die noch von Jürgen Klinsmann geleitete Auswahl endete, wurde von den Deutschen 2006 gefeiert und von den Historikern unter der Kapitelüberschrift „Sommermärchen“ beschrieben. Ein Spieler mit so ausgeprägter Vorstellung von Karrierevollendung wie Lahm allerdings will Wege mit Erfolgsplatten pflastern. Und er sehnt sich offen nach Titeln, nach großen Titeln, wie kaum ein anderer.

Am Freitagabend, wenn es in München in der Qualifikationspartie für die Weltmeisterschaft in Brasilien 2014 gegen Österreich geht, wird Lahm die Nationalmannschaft natürlich wieder als Kapitän anführen. Und natürlich wird der 29-Jährige wie in seinen 99 Spielen zuvor auch von Beginn auflaufen und so in den „Klub der Hunderter“ vorstoßen, einen kleinen, sehr exklusiven Klub, dessen Mitgliedschaftsausweis selbst deutsche Fußballlegenden wie Gerd Müller oder Uwe Seeler nie erhalten haben.

Dass Lahm erst am 18. Februar 2004, später als die jüngeren Kollegen Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger, gegen Kroatien debütierte, ist schon fast vergessen. Der Poldi wollte nie Verantwortungsträger sein, sondern nur spielen. Der Schweini wurde von Löw als „emotionaler Leader“ geadelt, bei der Besetzung der Kapitänsbrücke aber übergangen. Weil da der Philipp war, einer, der, wie der Bundestrainer dem „Kicker“ erklärte, „seit nunmehr fast zehn Jahren für Konstanz und Verlässlichkeit und höchstes Niveau“ steht.

Prototyp modernen Fußballs

Und für die Generation, die auch die goldene genannt wird, die von 2004 an die Nationalelf aus dem Tal herausführte, es jedoch noch nie bis zum lichten Edelmetall schaffte. Platz drei bei der WM in Deutschland. Platz zwei bei der EM in den Alpenrepubliken. Platz drei bei der WM 2010 in Südafrika. Und ausgeschieden im Halbfinale der EM 2012 in Polen und der Ukraine, ausgerechnet gegen ein Italien, das verdächtigt wurde, Fußball der Altvorderen anzubieten.

Für Lahm, der nationale Meisterschaften und Pokale mit den Bayern gesammelt hat, der 2013 die Champions-League-Trophäe stemmen konnte, ein Makel, auch, weil er sich selbst als Prototypen des modernen Fußballs versteht. Auf dem Rasen. Löw lobt ihn. Bayern-Trainer Pep Guardiola hat gar verkündet, bei ihm handle es sich um den spielintelligentesten Akteur, den er je trainieren durfte, egal, ob in klassischer Außenverteidigerrolle oder zentral. Und ab vom Rasen. Schon Anfang 2009 rieb sich Lahm am Führungsprinzip teutonischer Interpretation und damit an Michael Ballack, dem Capitano. „Heute gibt es nicht mehr den einen Spieler, der eine Mannschaft führt.“ „Auch bei uns in der Nationalelf verteilt sich der Führungsanspruch auf mehrere Spieler.“

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Dieses schmale Stück Stoff am Arm, diese aus Prestige gewirkte Kapitänsbinde, ist für Lahm aber trotz propagierter flacher Hierarchie nicht völlig ohne Bedeutung. Im August 2007 hat er sie beim 2:1-Sieg gegen England im Wembley-Stadion erstmals für gefühlte „zwei Minuten“ überstreifen dürfen. 2010, als Ballack verletzt nicht an der WM teilnehmen konnte, beschloss er, dass er sie „nicht freiwillig“ wieder herausrücken wolle.

Und jetzt hat er sie. Deshalb wird es sein Gesicht sein, auf das der Blick fällt, wenn die Vollendung der neuen Nationalmannschaft erreicht ist. Und es wird sein Gesicht sein, auf das der Blick fällt, wenn das Unvollendete beklagt werden muss.