Rio de Janeiro. Ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien räumt die Polizei in den Armen-Vierteln von Rio de Janeiro auf. Doch Drogen, Waffen und Gewalt spielenweiterhin eine große Rolle, nur nicht mehr so offen. Die Immobilienpreise in der Stadt sind seit der WM- und Olympia-Vergabe explodiert.

Oben ist unten, und unten ist oben. Das ist eine Grundregel in Rio de Janeiro, jedenfalls auf den ersten Blick. Oben, in der Favela Babilônia, verschieben sich die Grenzen allerdings rasch, wenn man mit Thiago Rufino spricht. Er kann eine kleine, schöne Erfolgsgeschichte erzählen. Allerdings ist sie nicht die Regel – und auch sie ist nicht ganz wahr.

Heute in einem Jahr beginnt in Brasilien die Fußball-WM, am Samstag startet das Turnier um den Konföderationen-Pokal, der Testlauf für die WM. Im Juli kommt Papst Franziskus zum Weltjugendtag nach Rio, 2016 finden in der Stadt die Olympischen Sommerspiele statt. Es gibt viele gute Gründe für die einstige Kapitale des boomenden Schwellenlandes, sich der Welt so zu präsentieren, wie es ihr Beiname verheißt. „Cidade Maravilhosa“, die wundervolle Stadt, wird Rio genannt. Und wenn man für eine Woche bei Thiago wohnt, auf der Dachterrasse steht und den atemberaubenden Rundblick genießt, dann kann man den Namen manchmal sogar glauben. Oben, wo eigentlich unten ist.

Mixtur aus Abgasen, Müll und Fäkalien

Die Favelas sind die Armenviertel Rios. Einfache Häuser und Hütten kleben an den Hängen wie Schwalbennester. Unten wohnt die Mittelschicht in Betonklötzen, der dichte Verkehr drängt durch die Straßenschluchten. Busse scheppern vorbei. Hinzu kommt eine Mixtur der Gerüche aus Abgasen, Müll und Fäkalien.

Aber unten ist oben. Dort leben jene, die mit Argwohn hochschauen. Viele von ihnen waren nie auf einem der Morros, auf den Hügeln des Elends um sie herum.

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Thiago lehnt an einer Mauer auf der Dachterrasse seines Elternhauses, in dem er geboren wurde und in dem sein Vater Luiz Carlos schon immer lebt. Thiago trägt ein Poloshirt und Shorts, dazu Flipflops. Das lässige Alltagsoutfit der Cariocas, der Einwohner Rios. Doch den Klischees entspricht der 25-Jährige ganz und gar nicht. Er studiert Wirtschaft, war für einige Zeit an einer Uni in Italien.

Neben dem Studium bietet er seit gut einem halben Jahr den Touristen zwei Zimmer zur Miete an. Und die Gringos kommen in die Favela, in einer Mischung aus Neugier und Abenteuerlust. Und wegen des Versprechens, das Thiago seinen Gästen gibt: Es ist sicher.

Sein Blick schweift über Copacabana, den weltberühmten, aber nicht mehr ganz so glanzvollen Stadtteil mit dem wohl bekanntesten Strand der Erde. Aus der Ferne sieht man nicht, dass die Fassaden vieler Hochhäuser bröckeln. Weiter hinten, auf dem 710 Meter hohen Corcovado, breitet der Cristo Redentor seine Arme über Rio aus. Vögel zwitschern, manchmal kräht morgens heiser ein Hahn, irgendwo in den kleinen Gassen Babilônias, durch die die Mopedtaxis knattern, um die Bewohner die steilen Hänge hinaufzubringen. Thiago sagt: „Das Leben hat sich verbessert. Früher konnten die Kinder nicht auf der Straße spielen, heute können sie noch spät abends raus.“ Er wirkt zufrieden, jedenfalls auf den ersten Blick.

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Früher, das war vor 2009. Dann wurde die Favela als eine der ersten in Rio befriedet. Der Staat marschierte mit Polizeitrupps, in einige Viertel sogar mit Panzern ein. Es sollte ein Ende haben mit der Melange aus Armut, Rauschgift, Waffen und Gewalt, jedenfalls vordergründig. Kritiker sagen, alles sei nur auf Druck der Sportverbände geschehen. Vielleicht auch, um ein gutes Bild abzugeben, wenn im Juli 2013 der Weltjugendtag hier stattfindet. Und manche glauben, dass es vor allem um Profit geht. Die Immobilienpreise sind seit der WM- und Olympia-Vergabe explodiert.

Thiago und seine Familie zählen zu den Gewinnern des Wandels. Die Drogenbosse wurden vertrieben. „Sechs Monate“, sagt er, hätten sich diese in Babilônia gewehrt. Dann hatte die Unidade de Polícia Pacificadora, die „Friedenspolizei“, das Viertel mit seinen 5000 Einwohnern unter Kontrolle. Bleiben noch ungefähr 1000 Favelas in Rio, die nicht befriedet sind. Und selbst in jenen, in denen nun die Polizei Präsenz zeigt, ist das alte Favela-Leben zuweilen noch gegenwärtig. Drogen, Waffen und Gewalt spielen bei einigen weiterhin eine große Rolle, nur nicht mehr so offen. Aber die wenigen Gangster beeinflussen alle, die mit ihnen leben müssen. Das ist in Rios Favelas eine Regel, die noch immer gilt.

Aus der Favela nach Italien

Erfolgsgeschichten sind eben meist nur die halbe Wahrheit.

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Das gilt auch für Thiago und seine Familie. Sie bauen gerade an, vier weitere Gästezimmer entstehen. Bis zur WM soll alles fertig sein für die Fußballfans. Gut 30 Euro kostet ein Zimmer pro Nacht derzeit. Manche Bewohner der Favelas zahlen das als Monatsmiete. Nun kommt Geld die Hügel hinauf, und es sorgt für neue Probleme. Die Favelas werden teurer, viele können sich das nicht leisten.

Thiago will auch nicht mehr lange bleiben. Pünktlich zur WM will er sein Studium abschließen. Danach möchte er weg, vielleicht wieder nach Italien. „Europa ist wundervoll“, sagt er. Thiago Rufino klingt jetzt, mit Blick auf die wundervolle Stadt Rio, als fühle er sich in der Favela Babilônia an einem Ort, bei dem jemand die vertrauten Koordinaten vertauscht hat. Wo oben nicht mehr unten und unten nicht mehr oben ist. Er scheint sich manchmal nicht ganz sicher zu sein, wie er das finden soll.