Berlin. Für die Abwehr der deutschen Fußball-Nationalmannschaft waren die letzten 30 Minuten des Schweden-Spiels ein Albtraum. Die Diskussion um die Defensive wird wohl abermals an Schärfe zunehmen. Bundestrainer Joachim Löw verkniff sich Schuldzuweisungen, man habe das Spiel im Kollektiv verloren.
Dem 30-Minuten-Albtraum von Berlin folgte eine unruhige Nacht in den wolkenweichen Luxusbetten des Schlosshotels Grunewald. Am Morgen dann traten Philipp Lahm, Per Mertesacker und die anderen Abwehrspieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft die Heimreise zu ihren Klubs an - mit der unangenehmen Gewissheit, dass die Diskussion, ob diese Defensive höchsten Ansprüchen genügt, eine neue Dimension erreichen wird.
Mertesacker: "Müssen uns auch einfach mal hintenrein stellen"
"Ob das wieder losgeht, ist mir vollkommen egal", erklärte Bastian Schweinsteiger, nachdem sich der erste Schock des 4:4 gegen Schweden nach 4:0-Führung gelegt hatte. Gegen Ende des Spiels hatte sich der Münchner fast verzweifelt wie ein Libero den Angriffen des Gegners entgegengestellt, aber der Zusammenbruch war da schon nicht mehr aufzuhalten.
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Die Verteidigung beginnt nicht erst am eigenen Strafraum, auf diese Binsenweisheit verwiesen sie fast alle unisono. "Wir müssen uns auch einfach mal hintenrein stellen", klagte Mertesacker, und der diesmal ausnahmsweise ziemlich schwache Torhüter Manuel Neuer moserte, seine Mannschaft habe die Schweden "eingeladen". Das sei "absolut unerklärlich".
Neuer: "60 super Minuten"
Während Bundestrainer Joachim Löw sich Schuldzuweisungen verkniff und von einem kollektiven Versagen sprach ("Die Abwehr hängt an der gesamten Mannschaft"), sah Mertesacker ein generelles Problem, das seinen Ursprung in der offensiven Spielweise hat. "Wir können das nicht, dieses Reinstellen da hinten, wir wollen das auch vielleicht nicht", sagte er. Kompromisslos alles weggrätschen, eben mal einen Befreiungsschlag auf die Tribüne knallen.
Andererseits beklagte der Profi des FC Arsenal, die deutsche Mannschaft sei ihrem Stil nicht treu geblieben. Das heißt: Wer den Gegner beschäftigt, hält den Ball von seiner Abwehr fern. Auch dies war spätestens nach "60 super Minuten" (Neuer) nicht mehr gelungen, bezeichnend war eine Szene kurz vor Schluss: Freistoß in der Hälfte des Gegners, und innerhalb von Sekunden war der Ball bei Neuer, der ihn den Schweden servierte. Kurz darauf fiel das 4:4.
Abwehr im Stich gelassen
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"Da spielen wir zwei Pässe, und der Ball ist beim Torwart, anstatt dass wir zur Eckfahne laufen", schimpfte Löw. Die Abwehr wurde im Stich gelassen, sie war wacklig, Holger Badstuber sah bei drei von vier Gegentreffern schlecht aus. Nach dem Spiel stahl der Münchner sich durch den Hinterausgang davon. Wortlos.
Dabei war er zuletzt der Chef der Abwehr gewesen. Doch nun verlor er einmal Schwedens Superstar Zlatan Ibrahimovic aus den Augen (4:1), dann unterlief er eine Flanke (4:2) und stand neben Johan Elmander, als der den Ball durch seine Beine ins Tor spitzelte (4:3). Ein rabenschwarzer Abend.
Das Kollektiv ist verantwortlich
"Es war nicht die Schuld von einzelnen Spielern, man kann das auch nicht an individuellen Fehler festmachen", sagte Löw beschwichtigend: "Im gesamten Kollektiv ist nicht mehr konsequent gearbeitet worden. Wir haben im Mittelfeld die Bälle verloren, wir haben nicht mehr die Ordnung herstellen können."
Und deshalb geht die Abwehr-Diskussion in die nächste Runde. Kurioserweise allerdings mit einem anderen Ansatz, denn der vom Bundestrainer so deftig kritisierte Marcel Schmelzer hatte wegen einer Knochenstauchung gar nicht spielen können. Links verteidigte Lahm, rechts Jerome Boateng. Und Schmelzer war diesmal der Gewinner - einfach nur, weil er gar nicht auf dem Platz stand, als das Drama von Berlin seinen Lauf nahm. (sid)