Istanbul. Der türkische Verband lockt die Talente, die in deutschen Klubs ausgebildet werden und für die DFB-Elf spielen können. Es ist ein Kampf der Kulturen, ein Wettstreit um die Herzen geworden.
Eigentlich begann die spannendste Geschichte des EM-Qualifikationsspiels der deutschen Nationalelf in der Türkei (Freitag, 20.30 Uhr) schon vor 13 Jahren. Mit Mustafa Dogan, und einem Bundestrainer, der tatsächlich Erich Ribbeck hieß. Der Trainer nahm Dogan – in der Türkei geboren, aufgewachsen in Duisburg-Rheinhausen, der Vater Stahlkocher – mit zum Confed-Cup. Dort debütierte Dogan am 30. Juli 1999 gegen die USA – und wurde zum Vorzeigeobjekt stilisiert, der erste Deutsch-Türke inmitten einer Elf der Lehmanns, Heinrichs und Linkes. Nach den Tiefpunkten des Teutonen-Fußballs bei der WM 1998 und der EM 2000 erkannte selbst der stockkonservative DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder die Chancen durch die Aufnahme türkischstämmiger Spieler und mahnte an: „Es darf keinen zweiten Fall Bastürk mehr geben.“ Yildiray Bastürk, geboren in Herne, sportlich groß geworden bei der SG Wattenscheid und dem VfL Bochum, absolvierte 49 Länderspiele – für die Türkei.
Wenn also am Freitag in Istanbul nun Mesut Özil für die DFB-Elf aufläuft, hat das viel mit Dogan und Bastürk zu tun – die Partie Deutschland gegen Türkei ist für viele Kicker ein gelebter Zwiespalt. Özil hat sich für Deutschland entschieden (ebenso wie Serdar Tasci oder BVB-Profi Ilkay Gündogan, der am Samstag zur DFB-Elf stößt), doch auf der anderen Seite laufen Spieler wie Hamit Altintop, Mehmet Ekici oder eben Debütant Ömer Toprak mit dem Halbmond auf der Brust für das Land ihrer Eltern auf. Oder Nuri Sahin, zwar in Lüdenscheid geboren, aber stets für die türkischen Nationalteams am Ball. „Es war eine Entscheidung des Herzens“, hat der frühere BVB-Profi, der derzeit verletzungsbedingt pausieren muss, aber für Real Madrid bald endlich spielen kann, oft betont.
Toprak soll für Türkei debütieren
Es ist ein Kampf der Kulturen, ein Wettstreit um die Herzen geworden. Der Wettbewerb um die größten Talente ist längst entbrannt. Und die Entscheidung der Kicker hat nicht immer nur etwas mit Vaterlandsliebe zu tun. Wie im Fall Toprak. Der Leverkusener Innenverteidiger, geboren in Ravensburg, wurde noch 2008 U19-Europameister – mit der DFB-Auswahl. Am Freitag aber soll er für die Türkei debütieren. Natürlich, gestand Toprak, habe er sich auch „wegen der besseren Perspektiven“ für das Land seiner Eltern entschieden. Die Türken suchen händeringend Defensiv-Spieler, während die Deutschen traditionell eher nach Kreativen fahnden.
Für die Versuche der Türken, die Talente zu angeln, ist insbesondere Erdal Keser zuständig. Der frühere BVB-Profi leitet für den türkischen Verband das Scouting in Europa, allein in Deutschland sind zehn Späher im Einsatz, um die Talente zu entdecken . Und dann wird beim Jungen wie bei den Eltern geklingelt und hofiert, geworben und geklimpert: „Wir versuchen, in den Herzen die Vaterlandsliebe zu entfachen“, nennt Keser das blumig. Die DFB-Führung um Sportdirektor Matthias Sammer ist weniger amüsiert über die Handlungsweise. „Nicht seriös“ nannte Sammer die Lockrufe der Türken und bemängelte fehlende „Moral“.
Moral, Vaterland, Familie, Herz – es geht sofort an die großen Gefühle. Spieler wie Özil oder Gündogan wurden übel beschimpft, als sie sich für die DFB-Elf entschieden. Dabei sind sie in Deutschland geboren, kennen die Türkei oftmals nur aus Urlaubsreisen, haben in deutschen Klubs Ausbildung und Förderung genossen, und schließlich DFB-Auswahlteams durchlaufen. Warum also sollten sie plötzlich für die Türkei spielen?
Romantiker Altintop
„Am Ende, wenn es drauf ankommt, sind wird doch Türken“, sagte Hamit Altintop, geboren 1982 in Gelsenkirchen. Der 29-Jährige hatte vor dem Qualifikations-Hinspiel im Oktober 2010 prägende Sätze hinterlassen: „Fußball ist manchmal eine Herzensangelegenheit“, sagte Romantiker Altintop, „aber viel öfter einfach ein Business.“ Ein deutscher Nationalspieler, so Altintop mit Bezug auf Mesut Özil, habe eben „mehr Lobby, einen höheren Marktwert, er verdient mehr Geld.“ Und eine derart imposante WM 2010 hätte Özil für die Türkei auch nie spielen können – sie war nicht qualifiziert.
Der Kampf um die Talente geht derweil unvermindert weiter. Die deutsche U17, die bei der WM jüngst für Aufsehen sorgte, ist gespickt mit Grenzgängern. Allein acht türkeistämmige Spieler standen im Aufgebot, Spieler wie Samid Yesil und Emre Can waren herausragende Figuren. Sie sind 17 Jahre alt, Jugendliche, die allein noch kein Auto fahren dürfen. Und doch müssen sie bald eine Entscheidung für ihr sportliches Leben treffen. Es ist verdammt viel verlangt.