Essen. . Eine Reise durch Deutschland auf der Suche nach dem Sommergefühl - von Berlin über Bochum, Dresden, Frankfurt und Augsburg bis Wolfsburg. Das WM-Reporter-Tagebuch von Ralf Birkhan.

Montag. Am Abend zuvor waren die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident bei der Eröffnung der WM in Berlin. Deutschland siegte 2:1 gegen Kanada, 74 000 Fans jubelten im ausverkauften Olympiastadion, und Angela Merkel und Christian Wulff redeten im Fernsehen über Frauenfußball. 16 Millionen Zuschauer saßen vor den Bildschirmen, bessere Werbung können sich Merkel und Wulff nicht malen. Am Montag kommt die WM in Bochum an. Mittags gehen Schülerinnen im Trainingsanzug vor dem Stadion spazieren, eine Polizistin mit Funkgerät bewacht die Gruppe. Es sind keine Schülerinnen, es sind die Nationalspielerinnen von Neuseeland, aber niemand erkennt sie. Sie sind 26 Stunden geflogen, um von Auckland aus Bochum zu erreichen. Am Nachmittag verlieren die Neuseeländerinnen 1:2 gegen Japan. 12 538 Zuschauer gehen nach Hause. Leise.

Dienstag. Der Interviewraum im WM-Stadion von Dresden hat keine Fenster. Es ist spät geworden nach dem 2:0-Sieg der USA gegen Nordkorea, alle wollen nach Hause, doch plötzlich und unerwartet spricht Min Kwang Kim. Weil der Trainer von Nordkorea nur sehr selten redet, bleiben alle sitzen. Kim erzählt von einem Blitz, der seine Spielerinnen bei einem Testspiel kurz vor der Abreise zur WM getroffen habe, daher seien seine Spielerinnen sehr geschwächt. Diese Geschichte hat noch niemand gehört. Hätte sie, sagen wir, der Trainer der englischen Männer-Nationalmannschaft erzählt, wäre sie das einzige Tagesthema gewesen. Aber es ist eine Frauen-WM, es ist Nordkorea, und alle wollen nach Hause. Die Geschichte bleibt in dem Raum ohne Fenster hängen.

Donnerstag. Auf dem Rasen des Bochumer Stadions spielt Frankreich gegen Kanada, aber wer kennt schon Spielerinnen von Frankreich oder Kanada? Die rund 16 000 Zuschauer inszenieren sich selbst mit ihrer La Ola. Die Welle ist die Krankheit dieser WM, kaum hat eine Schiedsrichterin ein Spiel angepfiffen, zählen die Zuschauer in irgendeiner Ecke der Tribüne „Drei, zwei, eins, heeeeeeeyyy“ und reißen die Arme hoch. Das Spiel? Wen interessiert das Spiel? Party-Zeit!

In Frankfurt wird Angreiferin Birgit Prinz beim 1:0-Sieg der Deutschen gegen Nigeria zum zweiten Mal während der WM ausgewechselt und stapft wütend zur Bank. Gegen ihr Gesicht ist ein Eiswürfel ein Kuscheltier. Im Land beginnt eine Diskussion über die Frage, ob Birgit Prinz denn wohl wie Michael Ballack sei. Die meisten, die mitreden, wissen nicht, wie der Verein heißt, in dem Birgit Prinz spielt.

Samstag. Beim FC Bayern München erscheint Nationaltorwart Manuel Neuer zum Trainingsauftakt, 30 000 Fans strömen dafür in die Arena. Frauenfußball ist kein Thema, die Bayern sagen nicht einmal die Ergebnisse des Tages durch. Draußen am Zaun steht auf einem Schild: „Eingang für Frauen“. Dort warten an einem Bundesliga-Spieltag die weiblichen Sicherheitskräfte zur Leibesvisitation.

Montag. Die Japanerinnen trainieren um 17.45 Uhr auf der Augsburger Bezirkssportanlage Süd. Der orangefarbene Teambus fährt um 17.30 Uhr vor, sonst niemand. Der Wachmann, der aussieht wie eine Burg auf zwei Beinen, hat nichts zu tun. Auf dem Nebenplatz trainieren die Mädchen des TSV Schwaben Augsburg. Die Japanerinnen tragen ein Tor in die Mitte des Platzes, im Hintergrund rauschen die Tannen in der Sommerbrise.

Die Engländerinnen dürfen im Stadion von Augsburg trainieren. Aus dem Fußball-Mutterland England sind drei Zeitungsreporter angereist. Bei der Männer-WM 2006 brauchten die englischen Journalisten ein ziemlich großes komplettes Hotel für sich. Es ist Ruhetag bei der Weltmeisterschaft, und Verteidigerin Sophie Bradley hat sich ihre Fingernägel pink lackiert.

Dienstag. Die englische Trainerin Hope Powell hat für ihr Team einen Spaziergang durch Augsburg angesetzt. Die Engländerinnen tragen unauffällige weiße-beige T-Shirts, in der Fußgängerzone der Stadt dreht sich niemand um. Die Wirklichkeit in den Städten des Landes ist eine andere, als sie das Fernsehen vermittelt. Das Fernsehen simuliert eine WM-Begeisterung unter dem Namen Sommermärchen, wie Las Vegas die Städte Venedig oder Paris simuliert. Man glaubt alles, weil man es vielleicht glauben möchte, doch insgeheim weiß man: Am nächsten Tag fällt der Blick hinter die Fassade, und schon verpufft die Illusion. Die WM ist schön, aber im Land gibt es keine Begeisterung. Doch im Fernsehen zeigen sie uns schließlich auch Gummibärchen, die sprechen können.

Am Abend geht es wieder um Sport. England hat die Japanerinnen mit 2:0 besiegt und zieht als Gruppen-Sieger ins Viertelfinale der WM ein. Trainerin Powell analysiert die Partie, da klingelt ihr Handy. Sie schaut aufs Display und sagt: „Oh, Moment, meine Mutter ruft an.“

Donnerstag. Die Kanzlerin reist aus Wolfsburg ab, wo sie am Abend zuvor auf der Tribüne neben den deutschen Spielerinnen gesessen und den 2:1-Sieg der Schwedinnen gegen die USA gesehen hat. Sie war wieder werbewirksam im Fernsehen. Für sie läuft die Weltmeisterschaft ausgezeichnet.