Essen. Lange mussten Fußballfans von der 1. bis zur 3. Liga auf ihre Stadion-Rückkehr warten. Doch bei den ersten Spielen blieben viele Plätze leer.
Torsten Lieberknecht zögerte. Ob es ihn denn freue, wieder im Stadion vor Zuschauern zu spielen, wurde der Trainer des Fußball-Drittligisten MSV Duisburg vor dem ersten Heimspiel gegen den FSV Zwickau gefragt. Der 47-Jährige atmete tief durch. „Das Herz fehlt, es ist die Kurve“, sagte Lieberknecht. Richtig: Die gemischte Gefühlslage spiegelte sich auch auf den Rängen wider: Von 6300 verfügbaren Tickets wurde der MSV nur 3462 los. Kein Einzelfall, auch in den Ligen darüber zeigte sich bei Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach und beim VfL Bochum ein ähnliches Bild. Warum? Eine Analyse.
Ticketvergabe
Wer den Fußball nach einem halben Jahr Verzicht wieder aus der Nähe erleben wollte, musste sich nicht nur an das Alkoholverbot, an fehlende Verpflegung und eine frühe Anreise gewöhnen. Um Nachverfolgbarkeit und Abstände zu garantieren, ist der Ticketkauf an Bedingungen geknüpft. In Bochum konnten die 7000 Dauerkarteninhaber maximal zwei Tickets buchen, Wünsche von Gruppen deshalb nicht berücksichtigt werden. Nun hat der VfL nachgebessert: Am Freitag gegen den VfL Osnabrück können bis zu vier Tickets gekauft werden, Einzel und Doppelplätze werden vergeben. Das Kontingent schrumpft deshalb auf 4395. Zudem dürfen sich jetzt auch Bochum-Fans um Tickets bewerben.
Dauerkarten waren schon vor dem Start das große Thema. Eigentlich müssten die Kapazitäten aufgebraucht werden. In Duisburg haben 2750 Fans ein Stadion-Abo. Hätten diese doppelt zugegriffen, wäre die Arena annähernd voll gewesen. In Gladbach sind 30.000 Saisontickets verkauft worden. Beim 1:1 gegen Union Berlin hatten sie den Erstzugriff, erst später die Mitglieder. Der BVB hatte im ersten Spiel den Abo-Kunden ein Vorrecht eingeräumt, für das Heimspiel gegen Freiburg am Freitag dürfen sich jetzt auch Mitglieder um die 11.500 verfügbaren Tickets bewerben. Fans, die weder das eine noch das andere sind und die noch offenen Plätze nutzen könnten, haben derzeit wenig Chancen auf Stadiongefühle.
Boykott der aktiven Fanszene
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Die Gelbe Wand in Dortmund war zuletzt grau. Stehplätze sind derzeit verboten. 9300 Zuschauer waren beim 3:0 gegen Gladbach dabei, doch aus der aktiven Fanszene wechselte niemand von der heimischen Couch auf die Sitzschalen. Die Maßnahmen seien unverzichtbar, erklärte das Fanbündnis Südtribüne Dortmund, dennoch habe „das alles kaum etwas mit der Fankultur zu tun, wie wir sie ausleben“. Konsequenz in Dortmund wie an den anderen NRW-Standorten: ein Boykott der Heimspiele. In Gladbach, Dortmund und Bochum waren die Ultras einer Meinung: ganz oder gar nicht. „Fan-Kultur lebt von Gemeinschaft, Enge, Chaos, Spontaneität, Freiräumen – Dinge, die in Anbetracht von Abstandsregelungen, personalisierten Plätzen und Durchregulierung definitiv nicht möglich sind“, erklärte die Gladbacher Fangruppe Sottocultura.
Entfremdung
Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie erreichte in den Stadien der Kampf der Fans gegen den Kommerz seinen Höhepunkt in der Causa Dietmar Hopp. Geändert hat sich trotz erzwungener Bedenkzeit nicht viel. Die Ausgaben für neue Spieler bleiben hoch, Leverkusens Kai Havertz wurde für 80 Millionen an Chelsea transferiert, Leroy Sané von den Bayern für 60 Millionen geholt. Zwar setzte die Deutsche Fußball-Liga (DFL) eine Taskforce zur Analyse des Ist-Zustands im Profifußball ein. Doch die Fanszene bleibt skeptisch.
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Entscheidend wird sein: Wie geht es nach Corona weiter? Die lange Pause könnte nicht nur eine Chance sein, davor warnte bereits BVB-Chef Hans-Joachim Watzke auf der Bilanz-Pressekonferenz Mitte August: „Die Gefahr ist natürlich: Wenn du zu lange eine Entwöhnung der Menschen vom Fußball hast, dann schlägt das auch aufs Interesse durch.“ Auch DFL-Präsident Christian Seifert ist alarmiert. „Wenn wir morgen die Stadien wieder komplett füllen dürften, wären sie möglicherweise nicht so voll wie zuvor“, sagte er dem Stern-Magazin. Dies könne nicht nur eine Folge des Fernbleibens älterer, gefährdeter Menschen sein, sondern auch der Fankritik. Deshalb brauche es eine Veränderung. Seifert: „Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Bundesliga in zehn Jahren immer noch so erfolgreich sein wird wie heute. Das ist kein Automatismus.“
Sicherheit im Stadion
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Wegen steigender Infektionszahlen blieb der Bundesliga-Auftakt von Schalke beim FC Bayern (0:8) fanfrei. Auch das Heimspiel der Königsblauen gegen Bremen (1:3) konnte wegen des Sieben-Tage-Wertes nicht vor Zuschauern ausgetragen werden. Einen Ansturm auf die Tickets hätte es wegen des Inzidenzwertes wohl ohnehin nicht gegeben.
Bleibt die Frage: Wie sicher ist der Stadionbesuch? Um das herauszufinden, sammeln die DFL und der Deutsche Fußball-Bund Daten mit Wissenschaftlern der Universitäten in Bochum und Heidelberg. Der Probebetrieb mit Fans im Stadion ist zunächst auf sechs Wochen anlegt. „Viele Leute müssen sich an die neue Situation gewöhnen“, sagte Gladbach-Trainer Marco Rose. Statt 10.804 kamen 10.383 gegen Union. „Wir sind dabei, eine neue Normalität aufzubauen“, sagt Borussia-Sportdirektor Max Eberl. Ob alle Tickets verkauft würden, sei ihm zunächst egal. „Den Menschen musst du zugestehen, dass sie sagen: Mal abwarten.“ Das Motto in Gladbach sei deshalb: Schritt für Schritt.