Lörrach/Essen. Die Bayern treffen im Champions-League-Finale auf Paris Saint Germain. Ottmar Hitzfeld hat als Bayern-Trainer zwei besondere Endspiele erlebt.
Natürlich ist der Sonntagabend fest verplant bei Ottmar Hitzfeld. Spätestens um 21 Uhr wird der Fernseher eingeschaltet sein, dann beginnt das Finale der Champions League zwischen dem FC Bayern und Paris St.-Germain (ZDF Dazn und Sky). Pflichtprogramm für den 71 Jahre alten Fußballtrainer, der in dem Moment noch einmal in den Unruhestand wechseln wird. „Das sind auch für mich immer schöne Abende“, sagt Hitzfeld, „man fühlt sich hineinversetzt in die Situationen, die man selbst erlebt hat.“ Es waren niederschmetternde wie 1999, als er mit den Münchenern das schon gewonnen geglaubte Finale gegen Manchester United noch verlor. Und es waren ekstatische, als er zwei Jahre später gegen den FC Valencia doch als erster Trainer mit dem FC Bayern den Henkelpott gewann. Nun also München gegen Paris – und vorab ein Gespräch über die letzte Nacht vor einem Finale, die Triple-Aussicht der Bayern, Fußball in Corona-Zeiten, die Lehren von 1999 und seinen wichtigsten Ratschlag für Trainer Hansi Flick.
Herr Hitzfeld, was geht Spielern, aber auch dem Trainer in der Nacht vor dem Champions-League-Finale durch den Kopf?
Ottmar Hitzfeld: Man steckt ja nun schon den ganzen Tag vorher im Spielmodus, ist angespannt, baut langsam die Konzentration auf. Die Nacht vorher ist schon extrem spannend, wenn man auf so große Spiele hinfiebert. Solche Chancen hat man nicht allzu häufig.
Was sagt man denn als Trainer einem Manuel Neuer und was einem Alphonso Davies, der bei Neuers CL-Triumph 2013 zwölf Jahre alt war?
Sowohl in Einzelgesprächen als auch vor der Mannschaft ist es wichtig, die Spannung nicht noch weiter zu erhöhen, die Spieler sind da schon so aufgedreht. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man mit Routine in ein Achtelfinale geht oder nun vor dem großen Finale steht. Da darf man als Trainer nicht überziehen, den Spielern nicht noch zu viele Informationen geben, nie zu viele Emotionen zeigen. Mit ein paar Worten kann man schon viel kaputt machen.
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Hatten Sie 2001 eine andere letzte Nacht vor dem Finale als 1999?
Ich glaube schon (lacht). 2001 war der Druck durch die 99er Niederlage noch größer. Das war einer der bittersten Momente, und den wollte ich nicht noch mal erleben. Die Erwartungshaltung ist hoch, man weiß, man kann die Welt mit einem Sieg wieder in Ordnung bringen. Für mich war es wichtig, dass ich mich aufs Wesentliche konzentriere. Es wäre falsch gewesen, in so einem Moment noch etwas Besonderes machen zu wollen. Man muss beim Einfachen bleiben.
Was können die Bayern so gut, dass sie auch Paris am Sonntag dominieren werden?
Hansi Flick ist der Leader der Mannschaft. Er stellt die Mannschaft ein, ist sachlich, bleibt ruhig, er weiß, dass Bayern richtig gut spielt. Da hat man automatisch auch eine gute Chance gegen Paris. Jeder einzelne Spieler ist in Hochform, die Mannschaft ist sehr homogen, kompakt beim Pressing und beim Umschaltspiel, man hat gegen jeden Gegner derzeit Lösungen parat. Bayern ist perfekt zurzeit.
Das 8:2 gegen Barcelona hat alle in einen Rauschzustand versetzt, beim 3:0 gegen Lyon zeigte sich die Mannschaft allerdings auch verwundbar.
Wenn man presst, kann man gleichzeitig hinten nicht immer auf Abseits spielen, wenn der Gegner sehr schnelle Leute hat. Das war gegen Lyon der Fall. Aber auch das ist eine Stärke der Bayern, eine schwächere erste Viertelstunde zu überstehen, ruhig zu bleiben im Wissen: Wir haben die Waffen, mit denen wir jederzeit zuschlagen können. Das zeichnet eine Spitzenmannschaft aus.
Ist aus Münchener Sicht nicht zu befürchten, dass Spieler wie Kylian Mbappé und Neymar anders mit ihren Chancen umgehen werden als Lyon?
Klar, die Bayern müssen sich noch mal steigern. Paris darf man nicht diese Chancen zugestehen, wie sie Lyon hatte. Paris ist auch zu Recht im Finale.
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Auch ein Verdienst des Trainers Thomas Tuchel.
Schon erstaunlich. Es ist ja keine leichte Aufgabe, als Deutscher in Frankreich zu arbeiten und die Leute zu überzeugen. Aber so akribisch er auch schon in Dortmund gearbeitet hat, so sehr hat er die Stars in Paris zu einer Einheit geformt. Angel Di Maria war schon immer mehr ein Mannschaftsspieler, aber Individualisten wie Mbappé und Neymar die Abwehrarbeit beizubringen, ist schon eine großartige Leistung. Gerade Neymar hat unter Tuchel eine große Entwicklung genommen, früher hat er der Defensive ja nur zugeschaut.
Im Finale 2020 herrschen ungekannte Bedingungen durch die Corona-Pandemie. Wie nehmen Sie die Spiele wahr, die man sich in der Form gar nicht vorstellen konnte?
Ich bin begeistert, dass überhaupt gespielt wird, dass man in Lissabon dafür ein Format gefunden hat. Natürlich ist es schade, dass es nicht Hin- und Rückspiel gibt, aber der K.o.-Modus ist auch spannend.
Man bekommt durch die Ruhe im Stadion viel besser mit, was auf dem Platz gesagt wird, wie Thomas Müller zum Beispiel beim FC Bayern das Kommando führt.
Richtig, das ist absolut spannend, mitzuverfolgen. Wie auf dem Platz gesprochen wird, wie von außen hereingerufen wird. Man konzentriert sich als Zuschauer noch mehr auf das Spiel und ist nicht abgelenkt durch die Emotionen im Stadion.
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Das lassen Sie nicht die Fans hören…
Es ist doch klar, dass auch mir die Emotionen fehlen. Man braucht wieder volle Stadien und Fans, die mitfiebern und Mannschaften anfeuern oder auch auspfeifen. Es ist schön, dass wir jetzt Spiele schauen können, aber ich sehne mich schon nach Publikum.
Die Corona-Zeit und Geisterspiele haben Ihnen also nicht die Leidenschaft am Fußball genommen?
Ich bin sehr froh, dass überhaupt gespielt wird. Die Deutsche Fußball-Liga mit Christian Seifert an der Spitze war da Vorreiter. Ein funktionierendes Konzept zu erstellen, war grandios. Andere Länder und Ligen haben nachgezogen. Frankreich wird es womöglich bereuen, so früh abgesagt zu haben. Das hängt aber immer von Entscheidungsträgern ab, vielleicht hatte man auch kein geeignetes Konzept wie Deutschland, wo ebenso die Politik überzeugt werden musste. Dass man auch die Champions League ohne Zwischenfall bisher auf die Beine gestellt bekommen hat, macht mich sehr glücklich.
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Worauf freuen Sie sich am meisten bei diesem Finale?
Also als Ex-Bayern-Trainer natürlich erst einmal, dass die Münchener im Finale stehen. Aber ebenso auf zwei großartige Teams mit ihrer Taktik und ihren Superstars. Wie verhält sich Paris, wenn Bayern Druck macht? Was machen die Münchener, wenn Mbappé und Neymar davonmarschieren? Es wird ein Duell auf hohem Niveau, die ganze Welt freut sich auf so ein Finale.
Bricht Robert Lewandowski noch Cristiano Ronaldos Torrekord von 17 Treffern? Zwei fehlen ihm noch.
Er hat es sich in Lissabon ja scheinbar noch etwas aufgespart (lacht). Er kann in jedem Moment zuschlagen. Es wäre Robert zu gönnen, er ist ein Ausnahmefußballer und hätte auch die Auszeichnung als Weltfußballer verdient.
Welchen Stellenwert hätte das Triple 2020 im Vergleich zu dem von 2013?
Ein Triple bleibt ein Triple. Da wird hinterher nicht diskutiert, wie der Modus war, wie viele Spiele man hatte. Diese Titel wären genauso wertvoll wie die vor sieben Jahren.
Hansi Flick könnte im Gegensatz zu Ihnen und Jupp Heynckes gleich im ersten Anlauf als Trainer mit den Bayern die Trophäe gewinnen.
Gerne, soll er. Man muss immer zuschlagen, wenn die Gelegenheit passt. Er sollte nicht sagen: Das ist mir noch zu früh, die Chance bekomme ich schon noch einmal. Es wäre den Bayern und ihm angesichts dieser sensationellen Saison zu gönnen.
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Wie haben Sie Hansi Flick kennengelernt, wie schätzen Sie ihn ein?
Wir haben ja nie zusammen gearbeitet, daher kenne ich ihn nicht so gut. Aber aus Gesprächen heraus kann ich sagen, dass er sehr ausgeglichen wirkt, nicht hektisch wird, die Mannschaft gut einstellt und alle 25 Spieler im Kader gut vereinen kann. Die alle bei Laune zu halten, ist die große Kunst des Trainers, des ganzen Stabs und aller, die auf dieser Ebene arbeiten. Deswegen ist es auch eine große Leistung von Hasan Salihamidzic (Sportdirektor, d. Red.), der ja auch ständig mit in der Kabine und auf der Bank ist.
Welchen Rat würden Sie Hansi Flick geben, wenn es in der 89. Minute 1:0 steht?
Nicht Manuel Neuer rauszunehmen (lacht). Oder generell auszuwechseln, sondern das Spiel laufen zu lassen. Wobei man das nicht so vorhersagen kann, das hängt alles von den Umständen ab.
Ihnen hängen die Auswechslungen von Lothar Matthäus und Mario Basler im Finale 1999 gegen Manchester United nach.
Aber Sie wissen doch auch, dass Mario Basler nicht der Spieler war, der 90 Minuten lang durchspielt. Und Lothar Matthäus war ja eigentlich schon Senior und hatte dreimal angedeutet, raus zu wollen. Wenn man auf diese Weise verliert, kann man alles infrage stellen.
Was hat die 102-Sekunden-Niederlage mit Ihnen gemacht?
Ach, das ist alles nicht so tragisch. Es gehört zum Sport auf hohem Niveau, nicht jedes Finale gewinnen zu können. Es war doch auch eine Leistung, überhaupt so weit zu kommen. 1999 hatten wir unglaublich viel Pech, 2001 haben wir unglaublich viel zurückbekommen. Erst die 94. Minute in Hamburg, als wir durch den Glücksschuss von Patrik Andersson noch Meister wurden. Und dann das 5:4 nach Elfmeterschießen gegen den FC Valencia, als Oliver Kahn weltklasse war und drei Schüsse hielt. Bei noch einem verpassten Titel in der Champions League hätte ich vermutlich heute noch Probleme, das zu verkraften. Aber nun bin ich sogar froh, 1999 das Finale so erlebt zu haben.
So weit in der Champions League zu kommen, ist mit immensen Einnahmen verbunden. In der Bundesliga wird über die Verteilung der TV-Gelder gesprochen. Kann ein anderer Schlüssel überhaupt noch etwas an der Allmacht des FC Bayern national ändern?
Der FC Bayern ist zu sehr enteilt – nicht nur fußballerisch, sondern auch wirtschaftlich. Im Marketing waren sie schon immer ihrer Zeit voraus, haben da Großartiges geschaffen. Die Münchener haben sich das alles erarbeitet und erwirtschaftet. Das ist nicht wie Paris oder Manchester City. In der Bayern-Führung und -Philosophie steckt sehr viel Know-how.
In der Liga geht es sehr monoton zu, es gab gerade erst die achte Deutsche Meisterschaft für den Rekordmeister. Kann Borussia Dortmund da noch mal in die Phalanx einbrechen?
Dortmund bleibt der Hauptkonkurrent. Also: Zum Glück gibt es den BVB überhaupt. Auch dort wird sehr gut gewirtschaftet, aber Bayern hat eben noch ein Drittel mehr zur Verfügung. Und das zeigt sich dann bei Millionen-Einkäufen. Trotzdem: Für Bayern München ist es auch wichtig, dass es ein starkes Borussia Dortmund gibt.
Beim BVB stellt es sich so dar, dass die Supertalente zu Superstars reifen und dann zu anderen Spitzenklubs Europas gehen. Ist da Kontinuität als ebenbürtiger Gegner überhaupt möglich?
Es ist doch schon mal schön und wichtig, dass Jadon Sancho bleibt. Borussia Dortmund macht hervorragende Transfers, hat ein großartiges Scouting. Die hochtalentierten Spieler wissen, dass sie nirgendwo in Europa die Chance haben, sich so gut zu entwickeln. Am Ende kommt es auf die Wirtschaftskraft an, da muss Dortmund dann eben auch den einen oder anderen Spieler verkaufen. Dann kommen die großen Vereine, die das Gehalt verdoppeln. Wenn der BVB da mitzieht, kann man vielleicht auch mal zwei, drei Jahre richtig angreifen. Aber vielleicht ist man dann auch nicht mehr Herr der Situation. Ist es das wert? Das hat Dortmund schon mal mitgemacht, es lohnt sich nicht. Wie sie es machen, ist hervorragend.
Letzte Frage: Verraten Sie uns doch bitte noch, wie 2001 die Nacht nach dem Finale war.
Oh, das war eine kurze Nacht, wir haben sehr lange gefeiert. Kurz gesagt: Es war ein Traum, das alles zu erleben. Nach so einer magischen Nacht fällt der Druck ab, man hat Erwartungen erfüllt, ist wunschlos glücklich, aber auch platt und ausgelaugt. Man freut sich dann aber ein paar Tage später noch intensiver. Ein tolles Gefühl.