Essen. Die Bundesliga hat ihre Spielzeit trotz erheblicher Bedenken beendet. Hier erklären unsere Sportredakteure, was für sie in Erinnerung bleibt.
Jürgen Polzin: Das Ballgeschiebe von Sinsheim - Fankrise eskaliert
Abpfiff. Endlich. Wo ist er geblieben, dieser Fußball, der unsere Moleküle tanzen ließ? Am Ende einer Saison, die vom Corona-Virus in die Quarantäne geschickt wurde, fühlt sich die Liebe schrecklich kalt an. Leere, auf Tribünen und in Köpfen. Die große Entfremdung zwischen Fans und Fußball aber zeigte sich schon vor der Corona-Zwangspause: Am 29. Februar kam es zum Ballgeschiebe von Sinsheim. Hoffenheimer und Münchener Profis spielten sich ab der 77. Minute den Ball symbolisch zu. Zwei Mal war die Partie zuvor unterbrochen worden. Grund waren Beleidigungen und Schmährufe gegen Hoffenheims Mäzen Dietmar Hopp.
Der Eklat war der Höhepunkt eines tiefen Zerwürfnisses im deutschen Fußball. Auf der einen Seite der DFB, die Liga und die Vereine, die Hetze von den Rängen nicht weiter hinnehmen wollen: Hass, Rassismus, Homophobie. Auf der anderen Seite Fangruppen, die sich gegen Kommerzialisierung und gegen Kollektivstrafen auflehnen und sich ihrer Macht bewusst werden, Unterbrechung oder gar Spielabbrüche erzwingen zu können.
Was bleibt, wenn das Virus geht?
Dominik Loth: Gladbach gegen Köln - ein Fußballspiel als Wendepunkt
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Mysteriöse Lungenkrankheit in Zentralchina ausgebrochen“ – so lautete die Meldung der Deutschen Presse-Agentur kurz vor Silvester. 27 Infizierte in Wuhan. Von Woche zu Woche wurden es mehr. Kurze Zeit später gab es die ersten Fälle in Europa. In der Redaktion wurde leidenschaftlich diskutiert: Welche Folgen wird das Virus auf den Sport haben? Ich war der Meinung: keine spürbaren. Ich dachte an die Grippe und verglich Zahlen.
Die Tage vergingen, und die Zahlen wurden größer. Plötzlich war es in Deutschland, plötzlich gab es erste Einschränkungen. Plötzlich durften keine Zuschauer mehr ins Stadion. Plötzlich saß ich in der Redaktion und schaute auf einen Bildschirm an einem dunklen Märzabend und hörte – nichts. Gladbach gegen Köln ohne Fans. Schlimmer als die unerträgliche Atmosphäre war die Gewissheit, dass dies einen Wendepunkt markierte. Keiner wusste, was noch alles kommen würde, aber jetzt wusste jeder, wirklich jeder, dass vieles nicht mehr sein wird, wie es war. Darum werde ich das Spiel Gladbach gegen Köln nicht mehr vergessen.
Sebastian Weßling: Man konnte Fußball sehen – aber nicht spüren
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Dass sich neben vielem anderen auch die Arbeitsbedingungen für Sportjournalisten dramatisch ändern würden, wurde spätestens in Kalenderwoche elf im März endgültig klar: Erst erfuhren wir, dass das Champions-League-Spiel von Borussia Dortmund bei Paris Saint-Germain ein echtes Geisterspiel sein würde, auch ohne Journalisten. Dann sagte der BVB die Pressekonferenz für das Derby ab, nachdem ich Trainer Lucien Favre noch in der Vorwoche zum Interview getroffen hatte. Und noch am gleichen Tag wurde die Saison unterbrochen.
Als es wieder losging, war nichts mehr, wie es mal gewesen war: Nur zehn schreibende Journalisten durften ins Stadion. Einige Tage vor den Spielen kamen nun Mails mit Hygieneregeln und einem vierseitigen Gesundheitsfragebogen. Und Auswärtsfahrten wie jüngst nach Leipzig waren plötzlich von ganz neuen und sehr seltsamen Sorgen begleitet: Was, wenn ich die insgesamt 900 Kilometer ganz umsonst zurücklege, weil ich an der Fieberkontrolle am Eingang abgewiesen werde? Zur Stimmung in den Stadien ist vieles schon gesagt. Schön war es nicht. Man konnte Fußball sehen, sehr guten sogar. Aber man konnte ihn nicht spüren. Ohne Fans merkte man erst so richtig, welche Wucht sie dem Geschehen sonst geben. Das fehlte. Und das war im Stadion noch viel eindrücklicher und viel bedrückender als im Fernsehen.
Peter Müller: Erst Vollgas, dann Leerlauf - und alles in einer Saison
Man meint ja immer, man habe im Fußball schon alles erlebt. Wenn man schon als Kind mitbekam, dass ein Deutscher Meister in der folgenden Saison absteigen kann (1. FC Nürnberg, 1968 und 1969), dann wundert einen doch nichts mehr, oder? Doch dann kommt die Saison 2019/2020. Und da schafft es eine ohne übergroße Ambitionen gestartete Mannschaft tatsächlich, eine Hinrunde hinzulegen, nach der eine Champions-League-Teilnahme durchaus denkbar erscheint. Als sie nach der Winterpause im Vollgasmodus weitermacht, stellst du anerkennend fest: Die Spieler haben eine tolle Einstellung. Seitdem aber: nichts mehr, gar nichts. 16 Spiele nacheinander ohne Sieg, Blamagen sogar gegen Abstiegskandidaten.
Entsetzt fallen dir deine Kommentare aus der ersten Saisonhälfte wieder ein. Als du von dem neuen Trainer geschwärmt hast, der Spieler motivieren konnte, die schon als verloren galten. Als du die Führung für die neuen Strukturen beim Personal rund um das Team gelobt hast, die Basis für den Erfolg also. Selbst Corona taugt nicht als Erklärung für diesen dramatischen Einbruch, denn er begann bereits vor der langen Pause. Und auch die Verletztenliste war nicht immer zu lang. Danke, Schalke 04. Es gibt schon genügend Leute, die an meinem Fußballverstand zweifeln. Jetzt zweifele ich auch noch selbst.
Christian Brausch: Wie die Corona-Krise ein Team wie den 1. FC Köln verändert
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Acht von zehn Partien gewann der 1. FC Köln vor der Corona-Pause. Dann kamen die Geisterspiele, und ich hätte mir im Leben nicht träumen lassen, dass solch ein Absturz folgen könnte. Aber der FC hat gezeigt, wie sich eine Mannschaft durch die Corona-Krise verändern kann. Wie ein Team zerbricht, das offenbar weder über fußballerische Qualität noch über die Mentalität verfügt, die unverzichtbar ist bei Mannschaften, bei denen der Erfolg auch an die Eigenmotivation gekoppelt ist. Wenn spielerische, taktische und individuelle Klasse vordergründig sind für Siege. Nicht die Emotion, die 50.000 Menschen in einem Fußballer erwecken können. Vor einer vollen Südtribüne rennt jeder, vor einer leeren Fankurve eben nicht.
Es war erschreckend zu sehen, dass die Kölner in jedem der zehn Geisterspiele weniger liefen als ihre Gegner. Neun Kilometer zum Beispiel gegen Union Berlin. Schnell war der Kader nur dann, wenn es um Erklärungen für die schlimmen Leistungen ging. Mit dem i-Tüpfelchen zum Schluss: Als Köln 1:6 in Bremen unterging.
Andreas Berten: Das war’s dann - nicht jeder Abschied tut auch wirklich weh
In Hamburg sagt man Tschüss und meint: schon wieder auf Wiedersehen. Schön doof für den HSV, denn besagtes Wiedersehen wird es mit der 2. Liga und nicht wie erhofft mit der Bundesliga geben. Scheint so, als wäre der Abstieg 2018 ein Abschied auf lange Zeit – statistisch betrachtet wechselt der HSV ja nur alle 55 Jahre die Liga. Da jetzt eine Auszeit vom Fußball ansteht, lässt sich sagen: Die Corona-Saison 2019/2020 war keine gute für emotionale Abschiede. Timo Werner bekam von RB Leipzig relativ freudlos eine Fotocollage in die Hand gedrückt – genauso wie ein Leihspieler namens Ethan Ampadu. Mario Götze stand mit Mund-Nasen-Schutz und eingerahmt von den BVB-Granden vor der leeren Gelben Wand. Dass Robin Knoche nach 15 Jahren letztmals das VW-Trikot auszog, werden nicht mal alle Wolfsburger mitbekommen haben.
Dezent ausschweifender ging es bei einem Karriereende in Stuttgart zu: Mario Gomez war 2013 einer der Triple-Bayern, er traf 170 Mal in der Bundesliga und 31 Mal im DFB-Trikot. Nun schaffte der 34 Jahre alte Schwabe mit dem VfB noch einmal den Sprung in die 1. Liga. Seine Aufstiegsjungs, so Gomez, könnten ihn immer um Rat bitten – „aber nicht in den nächsten vier Monaten, die gehören meiner Familie und mir“. Viel Zeit, sich wundzuliegen, falls Gomez darauf warten sollte, dass sich Fußball wieder wie echter Fußball anfühlt. So wie wir auch.