Essen/Köln. Sportphilosoph Gunter Gebauer spricht über die großen Sorgen der Klubs, über Geisterspiele – und über das mögliche Gute in der Krise.
Gunter Gebauer (76) ist Holstein Kiel eng verbunden. Der renommierte Sportphilosoph und emeritierte Professor der Freien Universität Berlin wuchs in Kiel auf, seine Mutter leitete einst die Geschäftsstelle des Klubs. Im vergangenen Jahrzehnt konnte Gebauer verfolgen, wie der Verein aus der Regionalliga in die 2. Bundesliga zurückkehrte. Derzeit ist trotz aller Planungen fraglich, wann auch Kiel in den Spielbetrieb zurückkehren wird. Der Fußball ruht aufgrund der Coronavirus-Pandemie. Gebauer spricht im Interview über den Stillstand, eine mögliche Chance durch die Krise und die Sehnsucht nach Spielen.
Herr Gebauer, vermissen Sie den Fußball?
Gunter Gebauer: Ja, ganz sicher. Es ist eine harte Zeit für jemanden, der die Gewohnheit hat, Bundesliga-Spiele zu schauen und mit der Familie darüber zu reden. Wir arbeiten zwar an verschiedenen Orten in Deutschland, aber am Samstag sind meine Frau, unsere Tochter und ich zusammen und gucken gemeinsam die Sportschau.
Ist in dieser schwierigen Zeit überhaupt an Spiele zu denken?
Gebauer: Wenn man das Ritual hat, Fußballspiele zu verfolgen, fehlt einem etwas. Es ist etwas herausgebrochen, was emotional wichtig ist. In unserer Familie engagieren wir uns für unterschiedliche Klubs. Das macht die Sache zwischen uns sehr spannend. Zu diskutieren, über Spiele zu reden, Spieler zu bewerten − das alles macht viel Spaß. Das ist Freizeit, Vergnügen, auch Entspannung.
Was bedeutet es für Fans, wenn diese Möglichkeiten plötzlich fehlen?
Gebauer: Das Identifikationsobjekt fällt aus. Es ist zwar noch da, muss aber – und das ist das Eigenartige am Sport – ständig wiederbelebt werden. Wenn es nur in der Vitrine steht, wie ein Pokal, nur im Album zu finden ist, mit Einklebebildern, oder eben nur als Video gesehen wird, ist das zwar nostalgisch verklärt schön, aber es ist nicht das lebendige Interesse. Es muss jedes Wochenende erneuert, immer wieder angeworfen werden. Durch Siege, aber auch durch Niederlagen, durch den Schmerz, den man spürt, wenn die eigene Mannschaft verliert. Bei vielen Vereinen, etwa im Ruhrgebiet, spielt die Identifikation mit der Stadt und der Region eine Rolle. Ein Beispiel wäre Schalke. Für solche Orte, die ihren industriellen Schwerpunkt verloren haben, die eigentlich auf Sinnsuche sind und ihre große Vergangenheit nicht mehr einholen können, ist das ein enormer Identifikator. Wenn der wegfällt, bleibt nicht mehr viel. Fußball ist zwar nicht mehr als ein Spiel, aber das kann sehr starke Identifikationen hervorrufen. Ein Spiel zeigt zum Beispiel, wie sich Leute in bestimmten Situationen verhalten. Nie aufzugeben, Widerstände zu überwinden, aus Niederlagen zu lernen – das sind zunächst einmal eher ethische Haltungen, die sich aber im Fußball sehr gut manifestieren.
Die Deutsche Fußball-Liga setzt ihren Spielbetrieb bis mindestens Ende April aus. Ist das nun ein Spiel auf Zeit?
Gebauer: Die DFL hat sich lange gesperrt gegen die Einsicht, was auf uns zugerollt kam. Wenn man informiert war, konnte man schon 14 Tage vorher voraussehen, dass es zu einer zwangsläufigen Spielpause kommen würde.
Warum tun sich Funktionäre so schwer, in dieser Situation klare Entscheidungen zu treffen?
Gebauer:Die Manager sind nicht sehr weitsichtig, was Dinge angeht, die außerhalb ihrer Sportkompetenz liegen. Sie sind oft gar nicht in der Lage, die Zeichen der Zeit zu erkennen, weil sie nicht darüber informiert sind und keine Sensibilität haben für das, was kommen wird. Für Sportfunktionäre müssen die Spiele weitergehen. Sie haben nicht im Kopf, dass es Situationen gibt, in denen Entwicklungen unterbrochen werden müssen. In denen man eine Pause braucht. In denen der Sport sich auch neu erfinden muss.
Uefa-Präsident Aleksander Ceferin hat gesagt, der Spielbetrieb in den europäischen Fußball-Ligen müsse spätestens Ende Juni wieder aufgenommen werden, um die Saison beenden zu können. Ist das realistisch?
Gebauer: Daran kann man wieder sehen, wie dort gedacht wird. Man denkt nicht daran, dass man eine große zivilisatorische Krise hat, bei der es noch sehr viel mehr Tote geben könnte und die auch in einer ökonomischen Katastrophe enden kann. Der Spielbetrieb fordert, dass er fortgesetzt werden muss und die Krise sich langsam zu verziehen hat. Das ist eine völlige Verklärung der Dinge. So kann nur ein Sportfunktionär denken.
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Die DFL und die Klubs wollen ab Mai Geisterspiele austragen, um den wirtschaftlichen Schaden noch in Grenzen zu halten. Was halten Sie vom Fußball vor leeren Rängen?
Gebauer: Das ist die letzte Notlösung, die man noch finden kann. Ich habe soeben die Funktionäre kritisiert, will mich aber über sie nicht mokieren. Man muss zugeben, dass ihre Sorgen absolut berechtigt sind. Sie sehen nun, wie ihr sportliches Unternehmen allmählich in dieser Krise untergeht. Es ist ein langsamer Untergang. Das Wasser steigt, es bleibt immer weniger Land übrig. Irgendwann schwappen die ersten Wellen darüber. Dann versinkt es und kommt vielleicht nie wieder hoch. Das muss ihnen Angst machen. Das Untergehen bezieht sich dabei nicht auf die Spielpraxis, denn Fußball kann man auch nach Krisen wieder spielen. Die Vereine müssen allerdings auch ökonomisch überleben. Die Profiklubs, die finanziell etwas klamm sind und eine lange Spielpause nicht durchhalten können, sind in ihrer Existenz gefährdet. Von diesen Vereinen haben wir eine ganz Menge. Eine Serie von Geisterspielen ist dann, so unangenehm das auch ist, vermutlich die einzige Chance, dass sich Vereine finanziell halten können.
Die deutschen Champions-League-Teilnehmer stellen 20 Millionen Euro für Klubs in Not bereit. Wie finden Sie das?
Gebauer: Ich finde das sehr gut. Vor allem dass die Klubs, so wird es ja dargestellt, das Geld freiwillig zur Verfügung stellen und es nicht durch Druck von oben zustande kommt. Man hat das Gefühl, dass Vereine einsehen, dass wenn es ihnen sehr gut geht, andere mitfinanzieren können, damit der gesamte Fußball in der Bundesrepublik fortgesetzt werden kann. Das zeigt Verantwortungsgefühl für das Ganze.
Kommt jetzt die Zeit einer neuen Solidarität im Profifußball?
Gebauer: Diese Solidarität dient dazu, das Milliardengeschäft zu erhalten. Es gibt eine Solidarität unter Geschäftsgegnern, die größer ist als die Gegnerschaft, weil man an das Geschäft insgesamt denkt. So ist es auch bei Kartellen in der Wirtschaft.
Welche Rollen können Medien derzeit im Sport einnehmen?
Gebauer: Sie haben ein großes Loch zu füllen: die Berichterstattung über Sport, die in den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern, die darauf spezialisiert sind, ein großer Geschäfts- und Unterhaltungsbereich ist. Für diesen haben viele Leute Abonnements abgeschlossen. Gerade in diesem Sommer entstehen riesige Löcher. Man kann sie vorübergehend stopfen mit schönen Wiederholungen. Aber damit kommen sie nicht über den Sommer.
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Was bedeutet das für die Emotionen?
Gebauer: Das sind Generatoren, die einen mit einem gewissen provisorischen Sinn versehen, die einem Freude geben, sich für das Leben zu interessieren, damit man sich nicht abkoppelt und zurückzieht, sondern sich weiter zu einer Gemeinschaft zählt. Sportgespräche sind wichtig als Small Talk. Das sind Dinge, die Menschen am Laufen halten, die eine Woche so strukturieren, dass an deren Ende ein paar schöne Ereignisse kommen, die Spaß machen, das Wochenende anzugehen Und das ist wiederum wichtig, damit man am Montag wieder einigermaßen vergnügt an die Arbeit geht. Es sind Abläufe, die wir in unserer Gesellschaft haben. Die kann man, wenn man sie aus der Perspektive eines Einsiedlers oder Mönchs betrachtet, für lächerlich halten. Aber wer sie als jemand betrachtet, der in vollen Zügen an der Gesellschaft teilnimmt, begreift, dass sie wichtig sind für das Funktionieren nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Einzelnen in der Gesellschaft. Es kommen also eine ganze Menge Schwierigkeiten auf uns zu. Medien und Veranstalter werden Probleme haben, diese erwarteten Ereignisse durch etwas anderes zu ersetzen.
Woher sollte die Sportwelt momentan Zuversicht nehmen?
Gebauer: Schwere Krisen haben manchmal etwas Gutes, wenn man daraus die richtigen Konsequenzen zieht. Eine gute Konsequenz wäre, wenn der Sport sich stärker auf sich selber zurückbesinnt, also auf das, was er für die Gemeinschaft leisten kann, was seine ursprüngliche Idee war, nämlich den Leuten Freude zu bereiten, Gemeinsamkeit herzustellen, Gegner zu achten und mit ihnen zusammen ein Ideal zu verwirklichen: ein faires Spiel. Das ist kein Mythos, das hat es alles gegeben. Man kann hoffen, dass es zu dieser Form der etwas bescheideneren Sportbegeisterung kommt, die die Bedeutung des Geldes etwas mehr in den Hintergrund stellt gegenüber der Spielkultur, der Spielinnovation, dem Spielwitz. Das sind hohe Werte, die man auch bei den Zuschauern findet. Es wäre mein Wunsch, dass das rein Materielle etwas verblasst.