Essen. Im Mai 2009 gewann der VfB Speldorf das Niederrheinpokal-Finale bei Rot-Weiss Essen mit 3:2. Es war der größte Tag in der langen Vereinsgeschichte.
Als der 27. Mai 2009 begann, hatte ich sehr schlechte Laune. Traurig war ich in die U-Bahn U18 gestiegen, um von meiner Heimatstadt Mülheim nach Essen zu fahren. Es war der letzte Arbeitstag meines Redaktions-Volontariats bei der WAZ – bis zum offiziellen Ende am 30. Juni hatte ich Urlaub genommen. Es gab einen Einstellungsstopp, die Suche nach einem neuen Job lief nicht besonders gut. Sogar sehr schlecht.
Und die Aussicht für den Abend war auch nicht rosig. Meine Kollegen hatten in diesen Tagen bemerkt, wie melancholisch ich schaute, und mir eine Karte für das Niederrheinpokal-Finale besorgt. Rot-Weiss Essen, damals wie heute ambitionierter Regionalligist, traf an der Hafenstraße auf den Niederrheinligisten VfB Speldorf. Der VfB aus Mülheim – Verein meiner Jugend. Für den ich elf Jahre lang die Fußballschuhe geschnürt hatte. Aber was sollte das geben? Nach dem letzten Arbeitstag den nächsten Untergang?
Vereinsmitglied beim VfB Speldorf seit 1985
Die letzte Station meines Volontariats war die Wirtschafts-Redaktion, nicht mein Thema. Der Tag lief schleppend, ich nahm eigentlich nur Abschied. Tschüss hier, ja, war schön da. Viel Glück für die Zukunft überall. Um 17 Uhr das letzte Adieu. Ich stieg in den Sonderbus Richtung Georg-Melches-Stadion.
Und dachte nach. 1985 trat ich in den VfB ein, gerade sieben Jahre alt. Ich begann als Mittelstürmer. In der D-Jugend schoss ich als Zehnjähriger einmal fünf Tore in einem Spiel. 6:0 gegen den RSV Mülheim, ich weiß es noch heute, auf dem staubigen Ascheplatz an der Hochfelder Straße, der mindestens so viel zu meiner Sozialisation beitrug wie die Schule. Immer wieder feierten wir in der Kabine die Vereinsfarben, egal in welchem Alter, und sangen: „Grün wie Klee, weiß wie Schnee, das ist unser VfB!“
Als „Sechser“ in der B-Jugend, inzwischen 15 Jahre alt, schaffte ich es in die Kreisauswahl. Der Sohn des Besitzers der örtlichen Pommesbude spielte in meiner Mannschaft. Ein Jahr Pommes kostenlos. In meinem ersten A-Jugend-Jahr trafen wir im Niederrheinpokal auf Borussia Mönchengladbach. Ich bewachte den späteren Fußballprofi Marcel Ketelaer, wir verloren 0:8. In meinem zweiten Jahr als A-Jugendlicher 1996 stiegen wir ab. Ich war inzwischen Manndecker. Und entschied: Versuch’ es als Journalist. Besser so.
„Sollen wir wetten, wie hoch RWE gewinnt?“
Zwölf Jahre nach meinem Karriere-Ende saß ich dann auf der Haupttribüne. Die Spieler kannte ich, ich gestaltete damals die Vereinszeitung. Der Kollege der WAZ Essen nahm keine Rücksicht auf meinen angeschlagenen Gemütszustand und stichelte: „Sollen wir wetten, wie hoch RWE gewinnt?“
Auf der einen Seite: RWE. Trainer Thomas Strunz, im Sturm Markus Kurth und Sascha Mölders, Spielmacher Mike Wunderlich. Profis. Auf der anderen Seite der VfB: In der Abwehr mit Christian Flöth, ein baumlanger bodenständiger Typ. Im Mittelfeld Rafael Synowiec, bekannt dafür, dass er nie, wirklich nie, ein Tor schoss. Trainer Dirk Wißel: ein Mann mit Revolverschnauze, kein Telefonat für die Stadionzeitung dauerte unter anderthalb Stunden. Und als Präsident mittendrin: Klaus Wörsdörfer. Ein Kumpeltyp, den ich schon mit 16 Jahren kennenlernte. Ich nannte ihn stets „Il Presidente“.
Als die Spieler zu den Tönen von Siv Malmkvists „Adiole“ den Rasen betraten, wich meine Melancholie Stolz. Mann, unser VfB hat es in dieses Finale geschafft. Der Sieger bekommt 113.000 Euro Prämie und darf im DFB-Pokal spielen. Vielleicht gegen Bayern München!
VfB Speldorf führt nach 33 Sekunden
Das Spiel begann, Speldorf bekam schnell einen Freistoß in Höhe der Mittellinie zugesprochen. Der Ball flog weit in den Strafraum, der baumlange Flöth stieg am höchsten – TOOOR! Nach 33 Sekunden!!!! Ich sprang auf, sprintete zu meinem Kollegen von der WAZ Essen, sagte ein paar Takte. Gut, dass ich mich an die genaue Wortwahl nicht mehr erinnern kann. Allein dafür hatte sich dieser Abend gelohnt. In der 17. Minute erzielte Wunderlich den Ausgleich. Ein Torwartfehler, 1:1, egal. Dann auf einmal wieder ein Freistoß, wieder eine Flanke, wieder ein TOOR! 2:1 durch Oktay Güney.
Pause, durchatmen.
Die zweite Halbzeit begann, sitzen konnte ich nicht mehr. Die RWE-Fans wurden unruhig, die grün-weiß gekleideten Speldorfer lauter. 68. Minute: langer Ball nach vorn, zwei RWE-Spieler rannten sich um – einer davon der Torwart. Güney stand frei – und: TOOOOOR! 3:1!
Die 22 Minuten bis zum Schlusspfiff habe ich fast komplett gelöscht. Ich erinnere mich nur noch an Angstschweiß, Zittern. An die aufmarschierende Polizei, die Randale befürchtete. Endstand: 3:2! JAAAA! Grün wie der Klee, weiß wie der Schnee, Pokalsieger ist der VfB! Ich stürmte auf den Rasen, herzte die Spieler. Il Presidente weinte. Am größten Tag der Klubgeschichte.
Erst Online-Redakteur, nun Schalke-Reporter
Zehneinhalb Jahre später sitze ich nun an meiner Tastatur im Funke-Medienturm in der Essener Innenstadt und schreibe eine Hymne auf den Verein meiner Jugend. Arbeitslos wurde ich nicht. Ich hatte Glück, wurde erst Online-Redakteur und nun sogar Schalke-Reporter.
Der VfB Speldorf hatte weniger Glück. Er flog in der ersten DFB-Pokal-Runde gegen Rot-Weiß Oberhausen raus. Die Enttäuschung über das Los war groß, der finanzielle Gewinn minimal. Die 0:3-Pleite war sogar Bestandteil des großen Wettskandal-Prozesses – drei VfB-Spieler sollen auf eine Niederlage mit drei Toren Differenz getippt haben.
Inzwischen kämpft der VfB in der sechstklassigen Landesliga gegen den Abstieg. Auf einem neuen Vereinsgelände, Belag: Kunstrasen. Der Ascheplatz meiner Jugend musste einer Einfamilienhaus-Siedlung weichen. Klaus Wörsdörfer ist wieder Präsident, obwohl er zwischendurch nicht mehr wollte und sich zum Ehrenpräsidenten küren ließ. Aber wenn der Verein in Gefahr schwebt...
War lange nicht mehr da. Vielleicht gehe ich mal wieder hin. Und irgendwann ist mein Sohn, momentan ein halbes Jahr alt, groß genug, um ihn auch anzumelden. Und dann singen wir zusammen: „Grün wie Klee, weiß wie Schnee...“