Düsseldorf. Der Bochumer Bayern-Profi Leon Goretzka spielt mit dem DFB-Team am Samstag im EM-Qualifikationsspiel gegen Weißrussland. Ein Interview.

Noch am Freitag gibt es Lob von höchster Stelle für Leon Goretzka: „Leon hat in dieser Woche einen sehr guten Eindruck gemacht“, sagt Bundestrainer Joachim Löw. Im EM-Qualifikationsspiel gegen Weißrussland wird der 24-Jährige trotzdem erst einmal auf der Bank sitzen. Ein Dauerzustand soll das aber nicht werden. Denn Goretzka strebt in der Nationalmannschaft eine Führungsrolle an, wie er im Interview verrät. Außerdem erklärt er, warum er sich öffentlich gegen Rassismus und für Gleichberechtigung einsetzt, inwiefern sich der Wechsel von Schalke zum FC Bayern gelohnt hat – und warum Bochum immer noch Heimat ist.

Herr Goretzka, wie oft müssen Sie derzeit an Herbert Grönemeyer denken?

Leon Goretzka: (überlegt kurz) Sie spielen auf das Lied „Bochum“ an? Ich habe jetzt eine Sekunde gebraucht, um mich an die Zeile zu erinnern, in der Düsseldorf eher kritisch besungen wird. Persönlich mag ich die Stadt, weil meine Schwester hier wohnt. Und ich war auch das eine oder andere Mal hier, als ich noch im Ruhrgebiet gelebt habe.

Sie sind erstaunlich textsicher.

Goretzka: Es ist ja auch die Hymne meines Heimatvereins.

Konnten Sie denn die Woche in Düsseldorf nutzen, um in der Heimat Bochum vorbeizuschauen?

Goretzka: Ja, das hat sich angeboten. Wir haben uns mit der Nationalmannschaft erst am Dienstag getroffen, einen Tag später als sonst. Deswegen konnte ich etwas länger zu Hause sein.

Ihre Eltern wohnen noch in dem Haus, in dem Sie groß geworden sind.

Goretzka: Genau. In dem Haus habe ich auch gewohnt, als ich bei Schalke gespielt habe. Das ist mein Rückzugsort.

Leon Goretzka (r.) und die Redakteure Marian Laske und Sebastian Weßling (v.l.)
Leon Goretzka (r.) und die Redakteure Marian Laske und Sebastian Weßling (v.l.)

Was bedeutet Ihnen so ein Ort?

Goretzka: Alles. Das ist ein richtig schönes Haus mit genügend Platz. Da war früher immer viel los, ich hatte immer viele Freunde zu Hause. Es gab ein Fußballzimmer, eine Tischtennisplatte, einen Basketballkorb. Für ein Kind war das ein Paradies. Es gab auch Tage, an denen eine komplette Jugendmannschaft des VfL Bochum zu Besuch war. Diese schönen Erinnerungen kommen hoch, wenn ich zu Hause bin. Das ist für mich ein durchweg positiver Ort.

Braucht ein prominenter Mensch wie Sie das, um dem Trubel zu entfliehen?

Goretzka: Ich habe glücklicherweise ein Umfeld, das mich auf den Teppich zurückholt, wenn ich mal Flausen im Kopf haben sollte. Andere leben das Profileben sicherlich exzessiver, das kann ich total verstehen und ist mir tausendmal lieber als eine ‚vorgespielte Bodenständigkeit‘. Wenn man sich mal was gönnen oder unvernünftige Dinge machen möchte, muss das jeder für sich selbst entscheiden – auch mit den möglichen Konsequenzen, wenn man in der Öffentlichkeit steht wie wir als Profifußballer.

Sie haben sich mit dem Wechsel zum FC Bayern bewusst aus dem behüteten Umfeld herausbewegt. Der richtige Schritt?

Goretzka: Ich hatte fünf wunderbare Jahre auf Schalke. Aber ich möchte das sportliche Maximum aus meiner Karriere herausholen. Ich will wissen, wo mein Limit ist. Deswegen war es logisch, den nächsten Schritt zu machen. Andere studieren, um das Elternhaus zu verlassen. Ich musste dafür Fußballer werden (lacht).

Warum zu den Bayern?

Goretzka: Wenn du mit Schalke in der Bundesliga spielst und dich konsequent verbessern möchtest, dann gibt es in der Liga eigentlich nur noch die Bayern.

Dortmund ging nicht?

Goretzka: Zum damaligen Zeitpunkt haben wir die Derbys gegen Dortmund gewonnen, deswegen wäre das ja nicht unbedingt ein Schritt nach vorne gewesen. Aber Spaß beiseite: Bayern war für mich der logische und richtige Schritt. Ich habe mich sehr schnell unheimlich wohlgefühlt in München.

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Ist München schon Heimat?

Goretzka: Heimat wird immer mein Zuhause in Bochum sein. Aber ich erlebe München total positiv. Es gibt sogar viele Ecken, die dem Ruhrpott ähneln.

Wir haben das Gefühl, dass Sie sich auch als Typ sehr weiterentwickelt haben.

Goretzka: Es wäre ja auch schlimm, wenn Sie einen anderen Eindruck hätten. Ich habe in der vergangenen Zeit angefangen, meine Gedanken zu politischen und gesellschaftlichen Themen stärker zu äußern. Die Gedanken hatte ich auch vorher, aber habe sie meist nicht in der Form geteilt. Vielleicht entsteht dadurch dieser Eindruck.

Warum machen Sie das?

Goretzka: Die Gesellschaft – und gerade auch die jüngere Generation – wird politischer. Ich hatte bis vor ein paar Jahren erschreckend wenig Ahnung von politischen Themen. Das hat sich durch die Entwicklungen in diesem Land geändert. Wenn ich als Sportler so viel Gehör finde, kann ich das ja auch anders nutzen, als nur zu zeigen, was für ein tolles Auto ich fahre.

Denken Sie da an Dinge wie die Fridays-for-Future-Bewegung?

Goretzka: Das ist das womöglich prominenteste Beispiel. Aber auch in meinem Freundeskreis unterhalten wir uns viel öfter nicht nur über vermeintlich belanglose Themen, sondern beispielsweise auch über Politiktalks vom Vorabend. Ich bin mit Sicherheit kein Aktivist, aber ich habe einen Standpunkt zu aktuellen gesellschaftlichen Themen.

Sie äußern sich gegen Rassismus und Homophobie sowie für Gleichberechtigung. Wie weit ist der Fußball bei solchen Themen?

Goretzka: Die Entwicklung ist insgesamt positiv, aber es gibt immer wieder Negativerlebnisse, die extrem viel mediale Aufmerksamkeit erlangen. Da ist es nur konsequent, dass man Stellung bezieht, wenn man eine Meinung hat. Trotz allem bin ich sehr glücklich in unserem Land leben zu dürfen: Wir haben eine Frau als Bundeskanzlerin, einen schwulen Bundesgesundheitsminister. Wir sollten die Leute nach ihren Leistungen und Einstellungen bewerten und nicht nach Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung.

Dennoch scheint sich der Fußball noch ein bisschen schwer zu tun.

Goretzka: Natürlich. Und man kann nicht stolz darauf sein, dass es wenig Rassismus gibt. Das Ziel muss sein: kein Rassismus. Aber es gibt so viele Positivbeispiele. Schauen Sie sich etwa die Nationalmannschaft an: Das ist ein kunterbunter Haufen, viele Spieler haben einen Migrationshintergrund. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, sie werden bei uns kein bisschen anders behandelt. Im Gegenteil: Diese Vielfalt bereichert unsere Mannschaft.

Würden Sie sich wünschen, dass andere Prominente sich ähnlich klar positionieren?

Goretzka: Ich kann verstehen, dass manche davor zurückschrecken oder einfach zurückhaltender agieren. Ich bekomme teils auch mal erschreckende Reaktionen. Deswegen kann man das von niemandem verlangen. Trotzdem möchte ich jedem Mut zusprechen, seine Stimme zu erheben. Wenn man mögliche Anfeindungen richtig einzuordnen weiß, kann man sehr gut damit umgehen.

Zuletzt gab es beim DFB Diskussionen, nachdem Emre Can und Ilkay Gündogan einen Instagram-Post mit "Gefällt mir" markiert haben, auf dem türkische Spieler militärisch salutierten – eine Unterstützung für den Krieg in Syrien. Wie ist die Mannschaft damit umgegangen?

Goretzka: Mich hat unsere Reaktion sehr gefreut.

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Dass die Aktion einerseits kritisiert, die beiden aber als Mitspieler dennoch unterstützt wurden?

Goretzka: Genau das – und dass wir als Nationalmannschaft direkt nach dem Estland-Spiel ein ganz klares Zeichen für Vielfalt und gegen Diskriminierung abgegeben haben. Dass es ein Fehler war, haben beide eingesehen und sich entschuldigt. Aber versetzen Sie sich mal hinein in Menschen, die Millionen Follower auf Instagram haben und ein Leben führen, in dem jeder Knopfdruck und jeder Doppelklick solche Reaktionen auslösen kann. Das ist nicht immer einfach. Die Erklärung der beiden war für mich plausibel und ich habe sie akzeptiert. Und dann müssen wir als Mitspieler zeigen: Fehler können passieren, wir stehen trotzdem hinter euch. Ich behaupte, Ilkay und Emre gut zu kennen und ich bin mir sicher, dass sie Krieg keineswegs befürworten. Deswegen hat die Mannschaft toll reagiert. Das Foto, das dann publiziert wurde, auf dem Manuel Neuer als Kapitän beide im Arm hat, sagt alles.

Sie gehören zu den Jahrgängen 1995/96, die beim DFB immer stärker in Vordergrund drängen. Wie würden Sie ihre Generation beschreiben?

Goretzka: Die meisten von uns haben schon außergewöhnlich viel Erfahrung für ihr Alter. In der Bundesliga, aber auch schon in der Champions League. Deswegen werden wir auch nicht wie Frischlinge betrachtet, sondern voll akzeptiert. Wir sind bereit und wir wollen Gas geben. Und wir sind hungrig auf Erfolge. Unsere Erfolge mit den Jugendmannschaften zeigen, dass wir das Potenzial haben. Daran wollen wir anknüpfen.

Wie sehen Sie Ihre Rolle dabei?

Goretzka: Es ist eine meiner Stärken, Verantwortung zu übernehmen. Dazu muss ich mit top Leistung auf dem Platz vorangehen. Das hat bis jetzt gut geklappt. Und dann wird man, wenn es in Richtung Turnier geht, weiter in eine Führungsrolle hineinwachsen. Wir haben einige Spieler, die den Anspruch haben, eine solche Rolle zu übernehmen - und dazu gehöre ich.

Ihr Mitspieler Joshua Kimmich soll sogar SMS mit Tipps und Hinweisen an die Mitspieler schicken. Haben Sie auch schon eine bekommen?

Goretzka: Mir kann er das auch jederzeit direkt sagen (lacht). Aber klar, er ist wie ich jemand, der sich Tag und Nacht mit Fußball beschäftigt und sich täglich verbessern möchte. Und das bedeutet auch, dass man anderen hilft. Wir teilen auch die Leidenschaft für Taktik und unterhalten uns entsprechend oft darüber.

Da diskutieren Sie dann, wer wann wo stehen muss?

Goretzka: Klar, da geht es richtig ins Detail. Es ist wohl noch keine Mannschaftsbesprechung vergangen, die wir danach nicht nochmal nachbesprochen haben.

Woher kommt Ihr Ehrgeiz?

Goretzka: Der ist sicher angeboren. Ich konnte noch nie verlieren, egal bei was. Und gerade bei Ballsportarten war das für Mitspieler sicher nicht immer leicht – und mir manchmal vielleicht auch etwas unangenehm.

Wenn man Ihren Weg sieht, ging es stetig aufwärts - aber immer waren die Klubs von Unruhe begleitet: Bochum, Schalke, jetzt die anderthalb Jahre in München…

Goretzka: Sie meinen, das liegt an mir? Vielleicht sollte ich mich ja mal hinterfragen. (lacht)

Wie haben Sie denn die unruhige Zeit in München erlebt?

Goretzka: Den Begriff Unruhe muss man schon richtig einordnen. Bei großen Klubs ist eine gewisse Erwartungshaltung ganz normal. Das kannte ich auch von meinen fünf Jahren auf Schalke und habe daher meine Erfahrungen mit solchen Situationen sammeln können. Ich habe da inzwischen eine gewisse Souveränität. Aber ich hätte auch nichts dagegen, wenn es mal ruhiger ist.

Dass der neue Trainer Hansi Flick großen Wert auf aktives Verteidigen, auf Pressing legt, kommt Ihnen entgegen.

Goretzka: Absolut. Das ist mein Spiel. Aber wir haben auch unter Nico Kovac in einigen Spielen so agiert. Viele sagen jetzt, dass ich durch Hansi Flick wieder Stammspieler geworden sei. Aber ich war vorher sechs, sieben Wochen verletzt - da ist es logisch, dass der Trainer mich nicht nach zwei Trainingseinheiten sofort wieder reinwirft. Die zwei Spiele jetzt waren extrem wichtig für mich, um wieder reinzukommen und meinen Rhythmus zu finden.

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Gelingt die EM-Qualifikation?

Goretzka: Das ist natürlich unser Ziel und unsere Erwartung. Und wir sind so selbstbewusst zu sagen, dass wir beide Spiele gewinnen können und wollen.

Welcher Titel ist wahrscheinlicher: die Champions League mit Bayern oder die Europameisterschaft?

Goretzka: Der Respekt vor den Gruppengegnern verbietet es, dass wir schon jetzt über solche Themen reden. Erst einmal müssen wir unser EM-Ticket lösen. Dass wir in einem Turnier und in einer K.O.-Runde den größtmöglichen Erfolg haben wollen, ist allen klar. Bei der Nationalmannschaft genauso wie beim FC Bayern. Dafür arbeiten wir täglich und dafür entwickeln wir uns als Mannschaften kontinuierlich weiter. Ich bin bereit, meinen Beitrag zu diesen Erfolgen zu leisten.