Hamburg. Das 2:4 gegen die Niederlande zeigt: Die Spieler fremdeln noch mit Löws neuem Stil. Das DFB-Team steht jetzt unter Druck.
Spät am Abend gelang es Serge Gnabry noch einmal, sich im Rücken von Virgil van Dijk davonzustehlen. Während der großgewachsene niederländische Abwehrspieler abgelenkt war von dem, was vor ihm geschah, fand der deutsche Angreifer jenen Raum, den er brauchte, stieß entschlossen durch die Lücke und hatte schnell mehrere Meter zwischen sich und van Dijk gebracht.
Der aber ließ sich auch diesmal nicht aus der Ruhe bringen, er wusste ja, dass diese Szene keine Rolle mehr spielen würde: Das EM-Qualifikationsspiel war längst beendet, die deutsche Nationalmannschaft hatte im Hamburger Volksparkstadion 2:4 (1:0) verloren. Und während Gnabry nun wortlos zum Ausgang strebte, stand van Dijk noch bei den Journalisten – und wunderte sich: „Ich war etwas überrascht über die Herangehensweise der Deutschen“, sagte der Innenverteidiger.
Damit war er nicht allein: Die Hausherren hatten den Niederländern viel vom Spiel überlassen, hatte sich weit zurückgezogen und auf Konterchancen gehofft. Die Dominanz der Gäste drückte sich auch in Zahlen aus: 57 Prozent Ballbesitz hatten sie, nur 43 Prozent die Deutschen. „Es kann nicht unser Anspruch sein, bei einem Heimspiel so wenig Ballbesitz zu haben“, schimpfte Abwehrchef Niklas Süle. „Wir müssen natürlich nach vorne als ganze Mannschaft mehr Druck erzeugen, nicht nur die Offensivspieler“, forderte Marco Reus.
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Löw mit Außenseiterfußball
Die Spieler schienen zu fremdeln mit jenem Fußball, der ihnen die erste Niederlage in der Qualifikation eingebrockt und damit den Druck vor dem Spiel beim verlustpunktfreien Tabellenführer Nordirland am Montag (20.45 Uhr/RTL) erhöht hat. Jenem Außenseiterfußball aus tiefstehender Defensive und schnellen Kontern, den Bundestrainer Joachim Löw mit seiner Aufstellung vorgegeben hatte: In der Defensive formierte er eine Dreierkette, die sich bei niederländischem Ballbesitz zur Fünferreihe verdichtete – dadurch fehlte im Mittelfeld ein Spieler, der Gegner hatte ständig Überzahl.
Zunächst ging der Plan ja sogar auf: Die Defensive wirkte weitgehend sicher und es wurden einige gefährliche Konter gefahren – einer führte zur Führung durch den auffälligen Gnabry (9.). Marco Reus hätte kurz vor der Halbzeitpause sogar noch auf 2:0 erhöhen müssen – dann hätte der Abend möglicherweise einen ganz anderen Verlauf genommen. Hätte, hätte, Fahrradkette: „Wir hatten zu wenig Zugriff auf den Gegner“, monierte Joshua Kimmich. „Und das wird dann zum Problem, je länger das Spiel dauert. Wenn du zu passiv bist, nur hinterherläufst, ist das sehr ermüdend, auch für den Kopf.“
Die Folge waren die Gegentore durch Frenkie de Jong (59.), ein Eigentor Jonathan Tahs (65.), Donyell Malen (73.) und Georginio Wijnaldum (90.+1), erzielt mit freundlicher Unterstützung der deutschen Abwehr. Mal kippte der unglückliche Tah im Strafraum um, mal spielte der nicht minder wacklige Matthias Ginter einen verhängnisvollen Fehlpass, mal war es Süle – weshalb der Elfmetertreffer von Toni Kroos zum zwischenzeitlichen 2:2 (79.) am Ende vollkommen wertlos war. „Dass wir kompakt und kontrolliert verteidigen wollten, war schon klar“, meinte Julian Brandt von Borussia Dortmund später. „Aber irgendwann standen wir dann einfach zu tief.“
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Spanien galt lange als Vorbild
Defensiv spielen ja, aber bitte nicht ganz so tief. Umschaltfußball ja, aber bitte mit mehr Ballbesitz – so recht wurde nicht klar, wie der neue Fußball dieser jungen Mannschaft aussehen soll und ob Trainer und Spieler wirklich die gleichen Vorstellungen haben. Sicher ist allerdings: Es soll in jedem Fall anders sein als in den Jahren bis zur verkorksten WM 2018.
Damals war noch Spanien mit seinem Ballbesitzfußball das große Vorbild, dem Löw mit seiner Mannschaft nacheiferte, dass er irgendwann sogar überholte. Doch nach dem Vorrundenaus von Russland galt dieser Ansatz als gescheitert, Löw musste seinen Fußball neu erfinden – sonst hatten die Verantwortlichen beim DFB wohl einen neuen Bundestrainer erfunden. Und weil in Frankreich und Kroatien zwei Umschalt-Mannschaften das Finale erreicht hatten, war die Idee vom schnellen Gegenangriff nun das Maß der Dinge.
Reus und Werner müssen runter
Und das brachte sogar Erfolg, allerdings nur einmal. Beim 3:2-Sieg im Hinspiel in den Niederlanden. Gegen Frankreich spielte das erneuerte DFB-Team gut, verlor aber 1:2. Und nun also Versuch Nummer drei gegen die Niederlande. „Dieses Mal waren wir besser darauf vorbereitet“, meinte van Dijk. Als sich mit zunehmender Spieldauer immer mehr abzeichnete, dass die deutsche Führung immer bedenklicher wackelte, entschloss sich Löw, doch etwas mehr Ballbesitz zu wagen. Die Angreifer Reus und Timo Werner ersetzte er durch die gelernten Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan und Kai Havertz, um die Führung abzusichern. Als die Wechsel vollzogen wurden, war allerdings das 1:1 bereits gefallen, Löw hielt trotzdem an seiner Idee fest. Die Folge: Nun schien niemand mehr im DFB-Team so recht zu wissen, was denn nun zu tun sei. Gegen Holland in Not.
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„Wenn wir ehrlich sind, dann ist es ein verdientes Ergebnis“, räumte Löw später am Abend ein – wies aber die Verantwortung dafür von sich: „Wir hatten heute unsere Schwachstellen. Aber nicht aufgrund von unserer taktischen Ausrichtung. Sondern aufgrund von individuellen Fehlern.“ Gegen Nordirland wird er dennoch einiges ändern müssen. Vor allem im taktischen Bereich: „Die Nordiren spielen viele lange Bälle, hohe Bälle, sind körperlich sehr robust“, erklärte der Bundestrainer. „Sie spielen einen ganz anderen Fußball als die Niederlande.“
Einen ganz anderen Fußball, den müssen an diesem Montagabend in Belfast aber vor allem die Deutschen spielen.