Mainz. Nach der Ausbootung von Boateng, Hummels und Müller werden neue Anführer gesucht. Marco Reus und Ilkay Gündogan füllen das Loch.
„Abfahrt in zwei Minuten“, dröhnte es aus dem Hintergrund. Was Ilkay Gündogan mit einem Lächeln quittierte. Zwei Minuten also bis zum Urlaub, da blieb noch etwas Zeit, um über diesen besonderen Abend in Mainz zu sprechen. „Das tut extrem gut. Nicht nur mir, sondern uns allen“, sagte Gündogan. „Wir hatten alle eine sehr schwierige Zeit im DFB-Trikot. Doch das macht Bock auf mehr.“
Wobei mehr Tore schwierig werden dürften, denn gegen Estland kombinierte sich die deutsche Nationalmannschaft schon zu acht Treffern. Marco Reus (10. und 37. Minute), Serge Gnabry (17. und 63.), Leon Goretzka (20.), Ilkay Gündogan (26./Foulelfmeter), Timo Werner (79.) und Leroy Sané (88.) trugen sich in die Torschützenliste ein. Zuletzt hat die Nationalelf vor fast 13 Jahren beim 13:0 gegen San Marino höher gewonnen.
„Man darf das Ergebnis aber nicht überbewerten“, sagte Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff. „Estland war nicht der starke Gegner.“
Sorg: „Es wächst was zusammen“
Nüchtern betrachtet brachte der dritte Sieg im dritten Spiel der Qualifikation für die Europameisterschaft 2020 zudem auch nicht mehr als drei Punkte ein. Mit neun Zählern steht Deutschland weiter hinter Tabellenführer Nordirland auf dem zweiten Rang der Gruppe C, der bereits für die EM reichen würde.
Auch interessant
Und doch hatte dieser Erfolg auch etwas Rauschhaftes. Nach dem blamablen Jahr 2018, den vielen drögen Auftritten. Das 8:0 war ein Klebstoff-Sieg, der zum einen die Spieler noch einmal enger aneinanderrückte. Der zum anderen auch die Profis und die Fans wieder enger aneinanderband. Lange war die Stimmung bei einem Länderspiel nicht mehr so ausgelassen wie im mit 26.050 Zuschauern ausverkauften Mainzer Stadion. „Es wächst was zusammen“, so Co-Trainer Marcus Sorg, der den verletzten Bundestrainer Joachim Löw vertrat.
Tatsächlich scheinen sich die Spieler immer besser zu verstehen. Keine Fragerunde nach einem Spiel kommt ohne einen Scherz aus. In Weißrussland filmte Thilo Kehrer, wie Marco Reus seine Sicht der Dinge erläuterte. In Mainz wurde Joshua Kimmich von Serge Gnabry am Arm gepackt und lachend von den Journalisten weggerissen. Bislang nutzen die Profis den freien Raum, der sich durch die Ausbootung von Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller ergeben hat. Die Jüngeren wie Joshua Kimmich (24), Niklas Süle (23) oder auch Leon Goretzka (24) streben nach mehr Verantwortung. Und auch die Älteren wie Ilkay Gündogan (28) und Marco Reus (30) zählen zu den Gewinnern, weil sie nun bewusster vorangehen.
Offensivspektakel von Reus, Gnabry und Sané
Reus verließ die Kabine mit einem Becher Obst. Erschöpft, aber glücklich. Vor fünf Jahren hatte er in Mainz kurz vor der WM 2014 ein persönliches Drama erlebt, als er sich schwer verletzte. Jetzt hat ihn seine nach langer Zeit mal wieder fast komplikationsfreie Saison noch einmal gestärkt. Wie zur Beweisführung erzielte Reus zwei Tore, eins davon mit einem wunderbaren Freistoß. Außerdem erzeugte er gemeinsam mit Gnabry und Sané ein Offensiv-Spektakel.
„Es ist wichtig, dass wir drei vorne flexibel sind“, meinte Reus. Dafür müssten sie eng beieinanderstehen, sich fallen lassen oder in die Spitze stoßen. „Das trainieren wir schon eine Weile“, erklärte der BVB-Kapitän. Auch Gündogan lobte die wichtigen Einheiten in der vergangenen Woche. Gegen Estland dirigierte er die rasante Offensive, er traf zudem per Foulelfmeter. Das Zentrum mit Goretzka, Kimmich und Gündogan wirkte kreativ, frisch, flexibel. Da könnte es für den geschonten Toni Kroos enger werden. Abwarten.
„Wir wollen wieder nach ganz oben“
Erst einmal zeige der Erfolg, dass man auf dem richtigen Weg sei, so Gündogan. „Er ist wichtig für unser Selbstvertrauen“, ergänzte Reus. Denn: „Wir wollen wieder nach ganz oben.“ Allerdings werden die kommenden Gegner in der EM-Qualifikation wesentlich mehr Aufschluss darüber geben, wie nah die Mannschaft der Spitze schon ist. Erst reisen die Niederlande nach Hamburg (6. September), dann fliegt die DFB-Elf zum Tabellenführer Nordirland (9. September).
„Wir müssen da unseren Weg weiterführen und uns, wenn möglich, noch verbessern“, sagte Gündogan, ehe er sich verabschiedete. Die zwei Minuten waren rum. Urlaub.