Essen/Enschede. Der Ex-Schalker und frühere Nationalspieler der Niederlande spricht über den Oranje-Aufschwung, Huub Stevens und eine WhatsApp-Gruppe.

Wir erreichen Youri Mulder zuhause in Enschede, gleich an der niederländischen Grenze zu Deutschland. Der seit Samstag 50 Jahre alte Ex-Nationalstürmer der Elftal (neun Spiele, drei Tore) ist aufgewachsen mit der Brisanz des Nachbarschaftsduells und weiß um den besonderen Stellenwert des Länderspiel-Klassikers, bei dem es am Sonntag (20.45 Uhr/RTL) um die Qualifikation zur Europameisterschaft 2020 geht.

In seiner Heimat arbeitet Mulder derzeit als TV-Experte beim Sender "Ziggo Sport" und genießt seinen Alltag. "Eine schöne Aufgabe", gibt er zu, "ein Trainerjob reizt mich im Moment eher nicht." Als Co-Trainer sprang Mulder 2009 Mike Büskens zur Seite, als sein Herzensverein Schalke - dessen Trikot er zwischen 1994 und 1999 176 Mal trug (33 Tore) - Fred Rutten vor die Tür setzte. Nun, zehn Jahre später, musste sein Ex-Klub erneut den Trainer entlassen und Büskens die Saison abschließen - diesmal jedoch mit Schalkes Jahrhunderttrainer Huub Stevens als Hauptverantwortlichen, unter dem Mulder seinen größten Erfolg als Fußballer feierte. Der Uefa-Cup-Sieger von 1997 erzählt im Interview, wie der "Knurrer" tickt und was Joachim Löw von Ronald Koeman in Sachen Umbruch lernen kann.

Oranje im Aufwind und Neusortierung bei der DFB-Elf. Hätten Sie vor einem Jahr gedacht, dass die Vorzeichen vor dem nächsten Länderspielklassiker so aussehen würden, Herr Mulder?

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Youri Mulder: Das zeigt mal wieder, was man als Ex-Profi sehr gut kennt: Im Fußball geht es unheimlich schnell.

Woran liegt das?

Mulder: Manchmal rafft sich eine ganze Mannschaft an einem einzelnen Spieler auf und das Blatt wendet sich. Mit Virgil van Dijk ging es plötzlich auch bei Klopp in Liverpool aufwärts, zum Beispiel. Andersherum können genauso in einer guten, funktionierenden Mannschaft einzelne Spieler außer Form geraten, zu alt werden und dann landet eine ganze Elf im Tal. Wir hatten das in den Niederlanden mit der Generation um Robben, die die letzten beiden großen Turniere verpasst hat. Man neigt als Trainer dazu, so lange wie möglich mit verdienten Spieler weiterzumachen. Joachim Löw hatte das Dilemma mit den vielen Weltmeistern von 2014 und hat nun den Neuanfang ausgerufen, nachdem sich ein gewisser Trott über die Jahre eingeschlichen hatte.

Wird die neue Generation eine erfolgreiche werden können?

Schalkes langjähriger Manager Rudi Assauer (r.) im Jahr 1999 mit Stürmer Youri Mulder.
Schalkes langjähriger Manager Rudi Assauer (r.) im Jahr 1999 mit Stürmer Youri Mulder. © imago

Mulder: Eine große Fußballnation sollte nicht in Panik verfallen. Millionen Menschen spielen in Deutschland Fußball. Aus neuen Kindern wachsen neue Talente.

Waren Sie bei den Niederländern auch so zuversichtlich?

Mulder: Als Stürmertrainer habe ich vor Jahren die U17- und U19-Nationalmannschaft besucht und viele Eindrücke sammeln können, wie es um die Zukunft bestellt ist. Dort sah ich die Frenkie de Jongs, de Ligts und andere Talente, die damals noch vor dem Durchbruch standen. Aber ich war mir sicher, dass sie eine gute Rolle bei der Elftal der Zukunft spielen würden. Deshalb habe ich nicht so schwarz gesehen wie andere. Aber im Profigeschäft herrscht die Ungeduld. Doch Talente können nur an der Seite von erfahrenen Kräfte in ihre neuen Rollen schlüpfen. Ein Umbruch kann deshalb nie übers Knie gebrochen werden.

War es die richtige Entscheidung von DFB und Bundestrainer Joachim Löw, nach dem WM-Debakel weiterzumachen?

Mulder: Schwer zu sagen. Löw muss nun jedoch schneller als ein neuer Trainer liefern. Beim angekündigten Neuanfang müssen Fortschritte gleich sichtbar sein. Deutschland war in den letzten Jahren so erfolgreich, weil Löw mit viel Risiko spielen ließ. Allerdings hatte der Bundestrainer es im vergangenen Jahr übertrieben mit seiner Kamikaze-Taktik: Nur Kreative im Mittelfeld, dazu noch die Außenverteidiger weit vorne. Unterm Strich hatte die DFB-Elf in vielen Spielen oft sieben Spieler mit offensiven, aber nur drei mit defensiven Aufgaben auf dem Platz. Bei der WM ist ihm dieses Wagnis um die Ohren geflogen. Löw muss beweisen, dass er wieder eine Balance finden kann.

Erwarten Sie ein Duell auf Augenhöhe in der EM-Qualifikation?

Mulder: Beim letzten Spiel in Gelsenkirchen war Deutschland deutlich besser, aber die Niederländer haben gut gekämpft. Nach den vielen personellen Veränderungen in der DFB-Elf denke ich aber nicht, dass die Löw-Elf diesmal der Favorit ist. Dafür stimmt die Form zu sehr bei der Elftal, die zudem noch ein Heimspiel hat. Deutschland hatte doch zuletzt oft Probleme, Tore zu erzielen. Der Killerinstinkt fehlt.

Welchen Anteil hat Bondscoach Ronald Koeman am Oranje-Aufschwung?

Mulder: Koeman hatte das Glück, dass er sofort den Schnitt machen durfte, den Löw jetzt machen musste. Die Zeit der Großen – Sneijder, Robben, Huntelaar, van der Vaart und van Persie – war vorbei. Er hat Löw vorgemacht, wie Umbruch geht - auch im Umgang mit verdienten Stars. Aber auch darüber hinaus hat er in Sachen Training und Vorbereitung ein professionelles Arbeitsumfeld für Oranje erschaffen.

Der junge Youri Mulder (l.) 1997 neben Marc Wilmots im Parkstadion Gelsenkirchen.
Der junge Youri Mulder (l.) 1997 neben Marc Wilmots im Parkstadion Gelsenkirchen. © imago

Auch zeigte sich Koeman taktisch flexibler als seine Vorgänger.

Mulder: Er hat seinen Kader betrachtet und geschaut, mit welcher Spielart hole ich das Beste aus diesem Team. Sonst war es in Holland immer andersherum: Man hatte ein festes holländisches System - ein Ballbesitz orientiertes 4-3-3 mit Aufbauspiel über die Flügel – und füllte die Positionen mit Spielern. Interessant ist, dass sich inzwischen eine Mannschaft gefunden und eingespielt hat, die diesen klassischen Fußball der holländischen Schule wunderbar drauf hat. Und seien wir mal ehrlich: Zu Oranje passt einfach keine Fünferkette.

Nicht nur die Elftal machte Hoffnung zuletzt, auch der Vereinsfußball: Ajax steht im Viertelfinale der Champions League.

Mulder: Ajax stand ja bereits vor zwei Jahren unter Peter Bosz im Finale der Europa League und setzte ein Ausrufezeichen. Während der Oranje-Krise gab es lange Debatten über die fehlende Willenskraft der holländischen Talente, die international nicht mehr mithalten könnten, vor allem in der Abwehr. Daraufhin hat man in den Niederlanden die Ausbildung angepasst. Jetzt haben wir nicht nur technisch gute Spieler, sondern auch durchsetzungsfähige. Matthijs de Ligt ist das beste Beispiel: Physisch stark, aber mit Gefühl im Fuß. Derzeit haben wir viele gute Verteidiger in den Niederlanden, dabei war das lange Zeit eine Problemstelle.

Die Kehrseite des Aufschwungs ist, dass Ajax im Sommer ein personeller Aderlass bevorsteht. De Jong wechselt nach Barcelona, de Ligt wird gehen. David Neres wird beobachtet, aber auch Hakim Ziyech, der schon seit einer Weile mit Borussia Dortmund in Verbindung gebracht wird.

Mulder: Beim FC Twente habe ich zwei Jahre mit Ziyech gearbeitet. Von zehn Bällen, die er spielt, sind fünf weg, zwei normal, aber drei so genial, dass aus denen ein Tor resultieren kann. Wenn man ihn scoutet, kann es deshalb sein, dass man seine genialen Fähigkeiten nicht erkennt. Er wäre ein super Spieler für Schalke oder Dortmund. Er arbeitet hart, ist ein Gewinnertyp, robust. Ich verstehe nicht, warum Topklubs bei ihm zögern.

Hätten Sie gedacht, dass Schalke 04 in dieser Saison so abstürzt?

Mulder: Natürlich nicht. Vor allem nicht nach der Vizemeisterschaft im Sommer.

Worin sehen Sie die Gründe für die Krise?

Mulder: So ein Typ wie Naldo ist nicht mehr da. Aber damit noch nicht genug: Goretzka ist weg, Meyer, Huntelaar schon etwas länger. Klaas-Jan war immer für Tore gut. Der kam aus Mailand nach Gelsenkirchen. Solche Kaliber sieht man nicht mehr auf der Einkaufsliste von S04. Bei der Kompensierung der jüngsten Abgänge fehlte mir der rote Faden, ehrlich gesagt.

Sie kritisieren die Einkaufspolitik von Christian Heidel.

Mulder: Nach so vielen Abgängen hätte man sich die grundsätzliche Frage stellen müssen, wie man eine ganz neue Mannschaft formt. Betrachtet man jeden getätigten Transfer für sich, sieht das vielleicht erst einmal gar nicht so verkehrt aus. Die Frage ist jedoch, ob man sich die richtigen Gedanken zur Zusammenstellung gemacht hat. Ich erkenne da keine Idee, was da letztendlich als Einheit auf dem Platz stehen sollte. An Geld hatte es Schalke diesmal jedenfalls nicht gemangelt.

Haben die Eurofighter eine Whats-App-Gruppe?

Mulder: Viele Ex-Schalker haben noch Kontakt untereinander. Man sieht sich regelmäßig und schreibt, aber es ist nicht so, als würde dort ständig jemand seinen Senf zur aktuellen Situation geben. Diese Whats-App-Gruppen hat man vor allem, wenn jemand Geburtstag hat oder Treffen anstehen. Wir sehen uns regelmäßig. Zuletzt haben wir uns bei der Beerdigung von Rudi Assauer gesehen.

Bedauern Sie die Beurlaubung von Trainer Domenico Tedesco?

Mulder: Natürlich. Tedesco hat mich menschlich sehr beeindruckt. Nicht nur nach der Manchester-Niederlage ist er vor die Kurve gegangen zu den Fans und hat sich gestellt. Das zeugt von Charakter. Er drückt sich nicht, sondern hat gezeigt, dass er ein Kapitän ist, der als Letzter von Bord geht, wenn es brennt.

Wie kommt Schalke aus der Krise?

Mulder: Schalke darf dieses Spiel in Hannover auf keinen Fall verlieren. Nach fünf Niederlagen ist das Problem aber: Für die Spieler ist Gewinnen zur Obsession geworden. Die Lockerheit fehlt. Die Partien gegen Bremen und Düsseldorf waren mit unglaublichen Erwartungen überladen. Das erschlägt dich auf dem Platz. Das Problem gibt es bei vielen großen Traditionsklubs. Auch auf Schalke sind das Hürden, mit denen die Profis ständig zu kämpfen haben.

Was raten Sie S04?

Mulder: Einen Schritt nach dem nächsten setzen. Man hilft den Jungs, indem man sie defensiv gut stehen lässt, an den Teamgeist appelliert, man ihnen mitgibt, kein Gegentor zu kassieren, gute Standards trainiert und fit in die Partie geht. Irgendwann kommt dann das Erfolgserlebnis von ganz allein, sei es ein 0:0, ein Remis, ein Punkt. Hauptsache es geht aufwärts.

Man hört die Philosophie von Huub Stevens heraus. Hätten Sie gedacht, dass er sich noch einmal auf die Trainerbank setzt?

Mulder: Ja, natürlich (lacht). Ich kenne doch Huub. Der will immer helfen. Würde er immer, wenn Schalke anfragt.

Dabei hatte er sich aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen.

Mulder: Ja, aber er hinterlässt einen körperlich und mental guten Eindruck. Ein Mensch kann sich ja auch wieder erholen von Rückschlägen. Wenn Huub ein gutes Gefühl hat, dass er der Aufgabe gewachsen ist, warum sollte er sie nicht annehmen?

Sie kennen ihn: Wie wird Stevens jetzt vorgehen?

Mulder: Schalke braucht Halt. Den gibt Huub den Jungs durch viel Training, in dem man sich das Selbstvertrauen zurückholt. Schalke muss schnell wieder ein Gefühl vermitteln, dass sie schwer zu schlagen sind. Die Gegner müssen ehrfürchtig in die Arena reisen. Zuletzt war das überhaupt nicht der Fall. Jeder spürte, wie nervös der Verein war. Sobald das sichere Gefühl wieder da ist, kommt der bessere Fußball von ganz alleine zurück.

Wie hart ist Stevens‘ Training wirklich?

Mulder: Es ging. Ich war aber auch hart im Nehmen (lacht).

Mussten Sie auch schonmal eine Geldstrafe zahlen?

Mulder: Natürlich.

Was hatten Sie verbrochen?

Mulder: Irgendwann hat jeder schonmal ein falsches T-Shirt an… Ich war auch Student und habe selbst meine Kleidung gewaschen. Früher sah die Mannschaftskleidung auf Schalke immer anders aus: Das eine Outfit war weiß, das andere blau. Lange war es egal, was man anhatte, Hauptsache das Logo war richtig. Unter Huub wurde Disziplin groß geschrieben. Der wollte in einer Woche alle in blau sehen, die andere in weiß. Alle sollten einheitlich aussehen – und natürlich immer pünktlich sein. Ich persönlich finde das ja nicht so schlimm, wenn sich einer mal um zwei Minuten verspätet, wenn es eine Ausnahme ist. An der Schlange am Buffet muss man eh erst einmal lange warten…