Peking. . Chinas Fußball-Erstligist Guoan in Peking steht wie der Revierklub für Tradition. Doch Roger Schmidt wechselt auch zu einem Verein mit hohem Trainerverschleiß.

Bei manchen Schlachtrufen, die durch das Pekinger Arbeiterstadion hallen, fragt man sich: „Dürfen die das?“ Offenbar gehören beim Fußball die Beleidigungen unterhalb der Gürtellinie zum guten Ton. Besonders wenn der Schiedsrichter falsch liegt. Dann haben zehntausende Fans einen Heidenspaß daran, in Vulgärsprache Dampf abzulassen. Ohrenbetäubend.

Roger Schmidt gibt Manager Li Ming die Hand drauf: Er kommt.
Roger Schmidt gibt Manager Li Ming die Hand drauf: Er kommt. © Twitter/Beijing Sinobo Guoan

Keinen Menschen interessiert dann noch, dass auf der Anzeigetafel dringend darum gebeten wird, auf den Gebrauch traditioneller Schimpfwörter zu verzichten. Der Versuch einer moralisch-zivilen Erziehung der Bevölkerung läuft hinter der Stadionkasse ins Leere.

Ständig neue Trainer, ungeduldige Fans

Das ist Peking, das ist Beijing Guoan, der neue Klub von Trainer Roger Schmidt, der nach seiner Entlassung im Frühjahr bei Bayer Leverkusen einen Neuanfang in der aufstrebenden Chinese Super League wagt. Guoan ist so etwas wie das Schalke der chinesischen Liga: ständig neue Trainer, ungeduldige Fans und eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Momentan liegt die Abstiegszone näher als die Tabellenführung.

Schmidt wird nach Felix Magath bei Shandong Luneng der aktuell zweite deutsche Fußballlehrer, der einen Erstligaklub aus der CSL trainiert. Der 50-Jährige nimmt auf einem Schleudersitz Platz. Er ist der 22. Trainer in 24 Jahren seit Pekings Umwandlung in einen Profiklub. Er ist der zehnte Ausländer, der sich seitdem versucht. Kein Serbe, Brasilianer, Italiener, Spanier, Südkoreaner oder Portugiese vor ihm hat mit Guoan je einen Titel gewonnen. Zuletzt nahm der Spanier Jose Gonzalez seinen Hut. Ab 1. Juli darf sich Schmidt versuchen.

Geduld gilt als Geldverschwendung

Die einzige Profimeisterschaft der Vereinsgeschichte feierte Guoan im Jahr 2009 mit einem Chinesen an der Linie. Dennoch sollen es immer wieder Ausländer richten mit ihrem taktischen Verständnis, ihrer innovativen Spielkultur und ihrem Erfahrungsschatz. Doch viel Zeit hat Schmidt nicht. Im notorisch ungeduldigen China gelten langfristige Strategien als Geldverschwendung. Verein und Fans wollen endlich die Lücke schließen zu Serienmeister Guangzhou Evergrande. 2014 reichte es immerhin zur Vizemeisterschaft, doch zuletzt gelang nicht einmal mehr der Sprung in die Champions League.

Man muss wissen: Beijing Guoan spielt eine Sonderrolle unter den chinesischen Fußballklubs, die gezeichnet sind vom Einfluss schwerreicher Unternehmen, von Umbenennungen in Namen von Elektronikmarktketten oder Immobilienfirmen und vom Austausch von Logos oder Vereinsfarben. Guoan ist in Peking noch so etwas wie Herzenssache. Pekinger Autos tragen Aufkleber von Guoan, Vereinsschals schmücken manches Restaurant der Stadt und Jugendliche tragen das Trikot ihres Lieblingsstürmers. Kein anderer Klub in China ist so tief verwurzelt in der Bevölkerung wie Guoan.

40.000 Menschen pilgern ins Stadion

Auch so ein bisschen wie Schalke. Während Guangzhou vor allem Erfolgsfans anzieht, pilgern zu den Spielen in Peking 40 .000 Menschen, auch wenn es nicht läuft. Aus dem benachbarten Hebei organisieren Fans Busse an den Spieltagen. Einzigartig in China.

Pekings Fans wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine Vereinnahmung durch die Wirtschaft. Zwar finanziert mit Citic Guoan ein Versicherer seit den Profianfängen das Team, doch jeder Versuch neuer Investoren, dem Verein ein neues Image oder gar neue Farben zu verpassen, scheiterte. „Die Leute sehnen sich nach einer Tradition, auf der sie ihre Fußballkultur aufbauen können“, sagt Brandon Chemers, ein Amerikaner, der in Peking lebt und seit 20 Jahren zur engen Fanszene des Klubs gehört.

Tausende Kilometer zum Spiel

Im Stadion hört man Fangesänge, die einzigartig sind. Die Ultragruppierung Royal Army hat die Songs der Pekinger Punkband Misandao auf ihre Lieblinge zugeschnitten. „Für unsere Ideale werden wir immer gerade stehen“, singen sie. Wo die Pekinger auftauchen, werden sie gehasst, weil sie von dort kommen, wo die Regierung ihren Sitz hat. Dennoch sind bei Auswärtsspielen einige Hundert, oft viele Tausend Pekinger Fans mit dabei, obwohl viele Spielorte Tausende Kilometer entfernt sind.