Frankfurt/Main. . Der Bundestrainer steht vor dem ungewöhnlichsten Turnier seiner Amtszeit. Beim Confed-Cup in Russland setzt er auf Rotation – das birgt auch Risiken.
Nehmen wir an, Joachim Löw sei abergläubisch. Dann müsste der Bundestrainer alles daran setzen, in den kommenden zweieinhalb Wochen erfolglos zu bleiben. Auf keinen Fall dürfte Löw mit der deutschen Nationalelf beim Confed-Cup in Russland, zu dem die Mannschaft an Donnerstag aufbricht, den Titel gewinnen.
Denn es ist so, dass jenem Probelauf vor der WM ein Fluch anhaftet: Nie ist es einer Nation gelungen, nach der Mini-WM auch die echte im Jahr darauf zu gewinnen. Weder Brasilien, das 1997 und 2005 beim Confed-Cup triumphierte, noch Frankreich 2001. Aber Löw ist nicht besonders abergläubisch. Übersinnliches ist auch nicht der Grund, warum er auf seine Besten verzichtet und einen Kader aus Perspektiv- sowie Gelegenheitsnationalspieler berufen hat.
Das Risiko besteht, dass die ganze Sache nach hinten losgeht
Der 57-Jährige plant in Russland einen bisher in seiner Amtszeit seit 2006 nie dagewesenen Laborversuch. Dieser geht über die ungewöhnliche Spielerauswahl hinaus und birgt wie jedes gute Experiment das Risiko, dass die ganze Sache nach hinten losgeht.
Hatte Löw bisher bei jedem Turnier eine mehr oder weniger ausgeprägte Kernmannschaft, die sich im Verlauf zunehmend mehr einspielen konnte und je nach Gegner nur noch ergänzt wurde, wird es in Russland eine ständige Rotation geben: „Ich werde allen Spielern viel Einsatzzeit zugestehen. Wir werden nicht immer mit der gleichen Mannschaft auflaufen“, sagt der Bundestrainer. So ist denkbar, dass gegen Australien zum Auftakt am Montag in Sotschi der wuchtige Sandro Wagner stürmen wird und drei Tage später gegen die taktisch versierten Chilenen in Kasan der flinke Timo Werner.
„Es wird verschiedene Systeme und verschiedene Aufstellungen geben, damit wir so viel wie möglich über die Spieler lernen, sonst bekommen wir nicht den Effekt, den wir wollen“, sagt Löws Assistent Marcus Sorg. Aus den 21 verbliebenen Spielern wird Löw zu jeder Partie ein neues Team aufstellen.
Erkenntnisse wichtiger als der Titel
Es ist eine Probe unter Realbedingungen, die Löw da vornimmt. Und er hofft, dass sich so zwei bis vier Verstärkungen für den WM-Kader 2018 zutage fördern lassen. „Nach diesen Wochen werden wir feststellen können, welcher junge Spieler die Gabe hat, die Verantwortung zu übernehmen“, sagt Löw. Besonders an den Abwehrbrocken Niklas Süle ist zu denken, aber auch an Leon Goretzka oder Werner. Doch natürlich birgt der russische Laborversuch auch das Risiko, dass er schnell beendet wird und Löw wieder heimfährt. Mit Australien, Chile und Kamerun warten eingespielte Truppen, die ihre Stars wie Arturo Vidal und Alexis Sanchez dabei haben. Löw geht das Risiko ein. Die Erkenntnisse sind für ihn wertvoller als der Titel.
Was den Erkenntnisgewinn angeht, ist der Confed-Cup ohnehin nicht zu verachten. Das hat Löw gelernt, als sein Team nicht einmal dabei war. 2013 schickte er seinen Chefscout Urs Siegenthaler nach Brasilien, und der Schweizer sendete nach Beendigung des Turniers eine wegweisende SMS an den Bundestrainer: „Wir sind aufgefordert, mit der Zeit zu gehen und die Idee zur Seite zu legen“, schrieb Siegenthaler.
Löw, der das schöne Spiel bis dahin über alles stellte, trat danach bei der WM 2014 als großer Pragmatiker auf, beorderte vier gelernte Innenverteidiger in die Abwehr und setzte auf Standardsituationen. Siegenthaler hatte beim Confed-Cup ein Jahr zuvor erlebt, dass die Hitze Brasiliens zu derartigen Maßnahmen Anlass gibt. Deutschland wurde mit Benedikt Höwedes als Linksverteidiger Weltmeister und erzielte pro Spiel 0,71 Tore nach ruhenden Bällen.
Diesmal kann sich Löw selbst von den Bedingungen im WM-Land überzeugen. Es ist ein großes Experiment mit offenem Ausgang.