Hannover. Das Spiel zwischen Deutschland und den Niederlanden wurde wegen Anschlags-Hinweisen abgesagt - und plötzlich war die Angst nach Hannover gekommen.
Um Normalität zurückzugewinnen, muss man sie einfach nur zulassen. Für Fußballfans bedeutet das, zu Spielen zu gehen und sich darüber zu unterhalten. Auch wenn dabei schwerbewaffnete Polizisten nur wenige Meter von ihnen entfernt stehen. “Wer wohl gleich im Tor steht”, fragt Michael seinen Kumpel, als er noch vor 18 Uhr an einer Brücke wartet, die über die Leine und zur Arena von Hannover 96 führt. Der 25-Jährige aus Mülheim bekommt ein Achselzucken als Antwort. Gut, ist ja auch nicht so wichtig.
Knapp eineinhalb Stunden später wird auch Michael wissen: Niemand steht im Tor, das Länderspiel gegen die Niederlande ist abgesagt, die Angst vor dem Terror kommt nun auch nach Deutschland.
Um 19.20 Uhr wird das Pressezelt geräumt
Es ist 19.20 Uhr, als im Pressezelt vor der Arena die Fachsimpelei unter Nationalmannschafts-Beobachtern unterbrochen wird und sich all diejenigen, die am Freitag Paris miterlebt haben, um vier Tage zurückversetzt fühlen. “Bitte verlassen Sie das Zelt”, sagt ein Ordner freundlich, aber doch bestimmt. Erinnerungen an die Attentate kommen hoch, auch wenn man noch keine Knalle gehört hat: Bitte nicht schon wieder, kann man denn überhaupt nicht mehr bedenkenlos zum Fußball gehen? Gut, in Belgien wurde am Nachmittag bereits das Spiel abgesagt. Und jetzt hier? Was ist denn überhaupt passiert? In einem Auto sei etwas gefunden worden, sagen die Agenturjournalisten, die Neuigkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
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Die Polizei riegelt das Gelände rund um die Arena in Windeseile ab. Erstaunlich, dass alle so ruhig bleiben, von Panik kann keine Rede sein. “Wir wünschen ihnen eine gute Heimfahrt, bis zum nächsten Mal”, ^tönt es aus dem Lautsprecher eines Polizeifahrzeugs.
Minister mit Blaulicht abtransportiert
Wer sich auf dem Weg in Richtung Innenstadt in Gedanken und Sorgen verliert, droht überfahren zu werden. Zwischen dem Ost- und Nordeingang des Stadions geht ein Tor auf, schwarze Limousinen brausen mit Sirenen heraus, die Fahrer hupen die Zuschauer beiseite. Die Kanzlerin sollte ja kommen, aber anstelle von Angela Merkel sind zu diesem Zeitpunkt nur Teile ihres Kabinetts im Stadion, ihre Wagen schieben sich nun mit Blaulicht auf dem Dach an der Blechlawine der Normalo-Fans vorbei. Joachim Löw und seine Weltmeister sind ja schon auf der Fahrt ins Stadion informiert worden und umgekehrt.
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Sie wollten ein Zeichen setzen für den Frieden. Genauso wie die Menschen, die zur Arena in Hannovers Süden aufbrechen. “Ich habe mir extra ein Ticket geholt, um Präsenz zu zeigen”, erklärt Alexander, Rentner aus Celle. Wenn man so möchte, sollte es im Stadion eine große Demonstration gegen den Terror werden. Mit der klaren Botschaft: Wir lassen uns von euch nicht kleinkriegen. In der Niki-de-Saint-Phalle-Passage unter dem Kröpcke, einem zentralen Platz in der Fußgängerzone von Niedersachsens Landeshauptstadt, wurde ein kleines Mahnmal errichtet: Blumen, Grablichter, Briefe. Eine Frau hat geschrieben: “Ich bin Syrerin, aber euer Schmerz ist auch mein Schmerz.”
Schon vorher gibt es einen Fehlalarm
Aber dass die Gefahr nicht mehr so weit weg ist, wird schon klar, als drei Stunden vor Spielbeginn in der Nähe des Stadions ein unbekannter Gegenstand gefunden und die Straßen abgeriegelt wird. Fehlalarm, wie sich 30 Minuten später herausstellt: In dem Koffer bewahrt ein Pfandsammler seine erbeuteten Flaschen auf. “Lieber einmal mehr vorsichtig sein als einmal zu wenig”, sagt ein Vater zu seinem Sohn. Im Hintergrund hört man “You’ll never walk alone”, ein wenig weiter steht ein Mann und hält ein Schild hoch: “Suche Karten” steht darauf. Vereinzelte Hinweise, dass doch alles so normal wie an einem Bundesligasamstag sein könnte.
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Dass es aber ein Länderspielabend der Angst wird, ist spätestens um 20 Uhr Gewissheit. Aus Sicherheitsbedenken, die zur Absage geführt haben sollen, wird eine konkrete Gefahrenlage und später sogar Terrorgefahr. Für die Sicherheitskräfte mag darin ein Unterschied besteht, bei Besuchern dreht sich der Magen um, wenn sie nur eine der drei Stufen vor sich her sagen. Und jetzt soll ja auch schon die GSG 9 auf dem Weg zum Stadion sein, man hört etwas von verstecktem Sprengstoff in einem Rettungswagen.
Polizisten setzen einen Mann fest
Die Getränkestände an der Nordkurve lassen die Rollläden herunter. “Es ist natürlich ärgerlich”, findet Marc. Der 30-Jährige aus Cottbus feiert mit fünf Kumpels seinen 30. Geburtstag nach. Die Anfahrt, die Karten, die Nacht in Hannovers Kneipen - alles geschenkt. “Aber wenn tatsächlich etwas passieren sollte, sind wir natürlich froh.”
Die Waterloostraße führt vom Stadion in die Innenstadt. Die Zuschauer sollten gut zu Fuß sein, denn im Umfeld werden U-Bahnstation gesperrt. Am Polizeipräsidium hängen drei Fahnen auf Halbmast: die Niedersachsens, Deutschlands und der EU. An einer Kreuzung haben Polizisten einen jungen Mann eingekreist, sie zielen mit Maschinenpistolen auf ihn, er hat seine Arme hochgehoben. “Bitte gehen Sie weiter”, sagt einer der Beamten zu den Passanten, die ihre Smartphones gezückt haben, fotografieren und filmen. Sie halten damit die Beweise dafür fest, dass man sich auch in Deutschland nicht mehr sicher sein kann vor den Terroristen.