Essen. Geld, Taktik, Frust: Peter Neururer sieht die Bundesliga in Gefahr. Der Ex-Trainer von Schalke warnt vor Entfremdung zwischen Klubs und Fans.

Peter Neururer ist für seine klaren Worte bekannt wie berüchtigt. Der ehemalige Trainer von Schalke 04 und VfL Bochum, heute Experte beim TV-Sender Sport1, sieht eine große Gefahr auf den modernen Fußball zukommen: Das Jonglieren mit Euro-Millionen könnte zu einer Entfremdung zwischen Klubs und Fans führen. Bevor die Bundesliga-Rückrunde am 12. Januar losgeht, nennt Neururer die Titelrennen fast überall in Europa "sterbenslangweilig". Wir sprachen mit dem 62-Jährigen über die aktuellen Entwicklung auf dem internationalen Transfermarkt.

Herr Neururer, im Fall des Nationalspielers Leon Goretzka, der offensichtlich vor einem Wechsel von Schalke zum FC Bayern steht, werden irrsinnige Summen aufgerufen. Wie verfolgen Sie das Thema?

Peter Neururer: Dem Spieler kann man keinen Vorwurf machen. Ich kenne ihn aus meiner gemeinsamen Zeit beim VfL Bochum. Leon ist charakterlich einwandfrei, ihm geht es nicht ums Geld, ihm geht es ausschließlich um seine Karriere. Aber wenn ich daran denke, was sein Berater an einem möglichen Transfer verdient, wird mir übel.

Wieso? Gönnen Sie ihm seinen Verdienst nicht?

Neururer: Doch, natürlich. Aber ich frage mich: Denkt er tatsächlich an die Karriere seines Spielers, oder hat er nur die Kohle im Sinn? Was tut er dafür, dass er bei einem Transfer auf einem Schlag Millionen verdient? Goretzka ist ablösefrei. Sie können sich vorstellen, was das heißt: Handgeld, Beteiligung am Gehalt. Im Fußball ist einfach zu viel Geld im Umlauf. Spieler sind keine Menschen mehr – sie sind eine Ware, die gehandelt wird wie Aktien. Auch auf Kosten der Klubs, die daran kaputt gehen. Es ist schon lange eine Verrohung der Sitten zu beobachten.

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Sie klingen wie ein Fußballromantiker. Die Stadien in Deutschland sind doch immer noch voll, die TV-Quoten stimmen. Bis auf einige Ultrabewegungen scheint ein Großteil der Anhänger das Spiel mit zu spielen. Der Fußball boomt...

Neururer: Ist das wirklich so? Man merkt doch mittlerweile überall in den Stadien, dass sich die Basis immer deutlicher abwendet von diesem Zirkus. Diese Abkehr wird von Monat zu Monat stärker, weil die Fans spüren, dass sie in diesem Milliardenspielspiel immer mehr zu lästigen Randfiguren werden. Das werden sie aber nicht mehr lange mitmachen. Ich prognostiziere: Die Straße holt sich den Fußball wieder zurück.

Die deutschen Klubs argumentieren, dass sie das Millionenspiel mitspielen müssen, um in Europa nicht den Abstand zu Vereinen wie Paris Saint Germain, Chelsea oder Manchester City zu verlieren. Ist das aus Ihrer Sicht ein Argument?

Neururer: Nein. Was passiert denn gerade dort? Die Meisterschaften sind sterbenslangweilig, weil der Titelkampf in den meisten Fällen zwischen höchstens zwei Mannschaften ausgespielt wird. In der Bundesliga ist das doch seit Jahren ähnlich. Meister wird der FC Bayern München, dann kommen noch ein, vielleicht sogar zwei Teams, die irgendwie mithalten können. Und der Rest der Klubs? Ist Fallobst, geht den Bach runter, spielt gegen den Abstieg. Ein Mittelfeld gibt es nicht mehr. Das hat mit einem gesunden und spannenden Wettbewerb nichts mehr zu tun.

Ist das ein Grund dafür, dass die Qualität in den meisten Spielen der Bundesliga eher enttäuschend ist?

Neururer: Sie sagen es. Wo es keinen echten Wettbewerb mehr gibt, wird es auch keine Qualität mehr geben. Das ist ganz einfach. Und es gibt noch einen Grund, warum der Klubfußball in Deutschland nicht mehr das großartige Niveau hat wie früher.

Verraten Sie es uns?

Neururer: Ich höre nur noch Doppelsechs, vertikale, horizontale Pässe. Es gibt den Begriff Packing, der besagen soll, dass man mit einem Befreiungsschlag plötzlich einen tollen Spielzug vollbracht hat, weil man mit einem einzigen Pass möglichst viele gegnerische Abwehrspieler überspielt hat. Dann gibt es eine halbe neun. Jetzt habe ich von irgendjemanden gehört, dass er eine Zwölf braucht. Da habe ich mich gefragt: Sind die jetzt völlig verrückt geworden? Was soll das bedeuten?

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Der Fußball ist schneller und komplizierter geworden, die Spieler werden immer besser ausgebildet. Was haben Sie denn dagegen?

Neururer: Da widerspreche ich Ihnen energisch. Die Ausbildung geschieht nach Schema F. Spieler werden heutzutage zu Stereotypen ausgebildet, dabei bleiben viele Qualitäten, die sie zu einem Topstar brauchen, auf der Strecke. Das sieht man doch in vielen Mannschaften. Da gibt es technisch starke Dribbler, aber es fehlen in Deutschland zentrale Abwehrspieler und Spieler auf der linken defensiven Seite.

Wollen Sie die Uhr am liebsten zurückdrehen? Sehnen Sie sich nach dem alten Fußball?

Neururer: Nein. Aber das viele Geld und die Verwissenschaftlichung des Fußballs sorgen dafür, dass sich der Sport immer weiter von der Basis entfernt. Irgendwann verstehen das die Leute in der Kurve nicht mehr. Sie fühlen sich nicht mitgenommen und distanzieren sich von den Spielern und den Klubs. Das wäre das Ende für diesen wunderschönen Sport. Ich befürchte: Wenn das auf Dauer so weitergeht, geht der Fußball kaputt.