Berlin. Beim Länderspiel in London am Freitag geht es auch um Perspektiven. Englands Talente gewannen 2017 fast alle Titel - Deutschland ist gewarnt.
Am großen Gary Lineker ließ sich die nationale Depression immer am schönsten ablesen, weil sein Satz heute noch dasteht wie in Stein gemeißelt. Der frühere englische Nationalspieler mühte sich in den 80er-Jahren, Spiele und Titel für sein Land zu gewinnen. Desillusioniert konstatierte er aber irgendwann, dass Fußball jenes gemeine Spiel sei, in dem 22 Männer einem Ball hinterherliefen – „und am Ende gewinnt immer Deutschland“. Oder jemand anderes. Zumindest nicht England. So fühlte sich das über die Jahrzehnte an, in denen der Insel-Fußball keine Trophäen einsammeln konnte. Der Frontmann englischer Verzweiflung sagt heute voller Hoffnung: „Wir haben eine neue goldene Generation.“
Der Satz ist ein paar Wochen alt und eine Reaktion auf den Sieg der englischen U17-Auswahl bei der WM in Indien. Zuvor hatten englische Nachwuchsteams schon die U19-EM und die U20-WM für sich entschieden, und bei der U17-EM war erst im Finale Endstation – im Elfmeterschießen. Eine solche Dominanz im Junioren-Fußball erreichten innerhalb eines Jahres nicht einmal die jahrelang führenden Spanier, auch nicht die Franzosen oder die Deutschen, deren Elite-Team sich am Dienstag in Berlin versammelte, um sich auf das Länderspiel gegen England am Freitag in Londons Wembleystadion vorzubereiten (21 Uhr/ZDF).
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Vor diesem Duell stellt sich die Frage, ob aus deutscher Sicht die Zukunft verloren ist. Schließlich hatte Bundestrainer Joachim Löw im Oktober vehement darauf hingewiesen, dass der deutsche Fußball aufpassen müsse, sich nur selbstgefällig zu loben für seine vielen Talente, weil auch andere Nationen längst gesegnet seien mit Talenten auf hohem Niveau.
„Rein an der Effektivität im Nachwuchsbereich gemessen, sind sie derzeit das Maß aller Dinge. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich das auch beim A-Team auszahlt“, sagt Horst Hrubesch (66), von dieser Redaktion zum englischen Fußball befragt. Er muss es wissen. Als Sportdirektor beim DFB fällt die Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft auch in sein Ressort. „England hat vor einigen Jahren den Fußballbereich grundlegend analysiert und seitdem massiv investiert“, sagt Hrubesch.
Wertvolle Investitionen
2012 wurde das neue, rund 120 Millionen Euro teure Leistungszentrum in Burton-upon-Trent eingeweiht. Es ist Heimat aller 28 Nationalteams. Der Verband verpasste sich eine einheitliche Linie zu den Fragen: Wer sind wir? Wie spielen wir? Was wollen wir erreichen? Die Antwort: Titel.
Seit der WM 1966 hat die englische Nationalmannschaft bei großen Turnieren nichts mehr gewonnen. Für das Mutterland des Fußballs desillusionierend. Doch die Wende könnte nun vollzogen sein. Der DFB ist gewarnt. „Talente waren in England schon immer vorhanden. Nun ist zum einen wesentlich mehr Struktur in die Talentförderung gekommen, zum anderen haben die Engländer aber auch enorm in Personal und Ausstattung investiert“, sagt Hrubesch. „Sie haben Möglichkeiten geschaffen, sich mit den Spielern noch individueller auseinanderzusetzen und sie noch gezielter zu fördern.“
Bei mindestens einem Bundesligisten aus der Spitzengruppe kursieren interne Papiere, in denen warnend berichtet wird, dass Talente in England zwei- bis dreimal so viel trainieren. Und dass darauf dringend reagiert werden müsse.
Noch stehen die Jungen im Stau
England stellt in der Champions League schon jetzt fünf Mannschaften, vier davon führen ihre Gruppe an. Doch die mit Stars aus aller Welt gespickten Teams von Manchester City, Manchester United oder dem FC Chelsea haben aufgrund ihrer ausländischen Fachkräfte meist wenig Verwendung für Auszubildende. Jadon Sancho, 17 Jahre alt und eines der größten Talente des englischen Fußballs, wechselte deswegen im Sommer von Manchester City zu Borussia Dortmund. Dort hat er Perspektive, dort kann er sich auf hohem Niveau im Wettbewerb beweisen, dort kann aus ihm ein besserer Spieler werden.
Eine Chance, die in der Premier League minimal ist. Im März trafen die deutsche und die englische U21 aufeinander. Während die DFB-Talente auf die Erfahrung aus 1137 Bundesliga-Einsätzen zurückgreifen konnten, kam Englands Nachwuchs gerade mal auf 206 Erstliga-Einsätze. Eine goldene Generation, so scheint es, im Rückstau exzellenter ausländischer Stars.