Leipzig. Vor dem BVB-Spiel in Leipzig spricht RBL-Trainer Julian Nagelsmann über das Spitzenspiel, Titelaussichten - und einen möglichen Wechsel zum BVB.
Die Frisur sitzt, am letzten Tag vor dem Lockdown war Julian Nagelsmann noch beim Friseur. Und inzwischen wird das Haar eben ein wenig schütterer, scherzt der Trainer von RB Leipzig, auch schon mit 33. Im Interview spricht der jüngste Trainer der Bundesliga über die Kräfteverhältnisse im Spiel gegen Borussia Dortmund an diesem Samstag (18.30 Uhr/Sky), die Titelchancen von RB – und die Aussichten, dass er mal BVB-Trainer wird.
Sie empfangen Dortmund mit sechs Punkten Vorsprung. Ist Leipzig Favorit?
Julian Nagelsmann: Das würde ich nicht zwingend unterschreiben. Ich würde eher sagen, dass wir ein bisschen weniger Druck haben. Wenn wir gewinnen, haben wir neun Punkte Vorsprung. Und wenn man sieht, wie wenig Spiele wir dieses und letztes Jahr verloren haben, sind neun Punkte schon ein kleines Brett. Ich denke, dass es zwei Mannschaften auf Augenhöhe sind. Wir haben vielleicht den besseren Flow, wobei Dortmund jetzt durch den Trainerwechsel einen neuen Input und eine veränderte Ansprache hat. Deswegen gibt es keinen Favoriten. Es liegt etwas mehr Druck bei Dortmund, aber das sind sie gewöhnt, das wird am Ende nicht entscheidend sein.
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Sie liegen nur zwei Punkte hinter dem FC Bayern. Ist Leipzig ein Titelkandidat?
Nagelsmann: Ob man Titelkandidat war, kann man immer erst am Ende einer Saison bewerten. Dann weiß man, ob ein Titel möglich gewesen wäre. Letztes Jahr waren wir am Ende kein Titelkandidat, weil die Rückrunde einfach zu instabil war. Aktuell sind wir sehr stabil, aber es sind auch erst 14 Spieltage gespielt. Von daher geht es erst einmal darum, stabil zu bleiben. Wenn das gelingt und wir auch am Saisonende zwei Punkte hinter Bayern sind, waren wir sicherlich ein Kandidat. Wenn wir bis dahin wieder großen Rückstand haben, dann nicht.
Sehen Sie denn Ihre Mannschaft besser gerüstet, um eine schwächere Rückrunde zu vermeiden?
Nagelsmann: Ja, ich habe schon den Eindruck, dass wir reifer geworden sind. Man sieht es zum Beispiel gegen Mannschaften, die in der Tabelle nicht ganz oben stehen. Gegen diese Teams hatten wir in der vergangenen Saison häufiger Probleme als in der aktuellen Saison. Aber es sind erst 14 Spiele gespielt. Letztes Jahr waren wir Herbstmeister und hatten auch das Gefühl, dass wir sehr gut im Fluss sind – und dann sind wir plötzlich aus dem Tritt gekommen. Das geht im Fußball in beide Richtung manchmal sehr, sehr schnell.
Sie hatten mit Leipzig kaum eine Sommerpause, haben Timo Werner und Patrik Schick verloren und stehen dennoch wieder oben. Warum?
Nagelsmann: Einige Spieler haben sich sehr gut entwickelt, wie ein Amadou Haidara oder Emil Forsberg, die in der vergangenen Saison nicht immer die tragende Rolle hatten. Sie brauchten eine gewisse Zeit, sich an das zu gewöhnen, was wir möchten. Und ich musste lernen, was die Spieler sehr gut können, was sie weniger gut können oder was sie weniger gerne machen. Und aktuell passt es einfach sehr gut.
Das ist alles?
Nagelsmann: Außerdem hat uns das Champions-League-Turnier in Lissabon unglaublich gutgetan. Dass wir im Viertelfinale gegen Atlético Madrid gewonnen haben, hat den Spielern gezeigt, was in ihnen steckt, dass sie auf hohem Niveau mithalten können. Und auch der Teamspirit über die zehn, zwölf Tage war unheimlich intensiv. Es war wie unser Sommerurlaub, nur dass wir noch Pflichtspiele hatten. Das hat die Jungs nochmal zusammengeschweißt, auch mit dem Staff und dem Trainerteam. Auch da haben wir gute Charaktere dazu geholt, die dem Gesamtkonstrukt auch aus mentaler Sicht guttun, die einen guten Draht zu den Spielern haben. Die Stimmung ist super, wir sehen uns alle jeden Tag sehr gern. Letztes Jahr war ich neu. Da war alles noch nicht so eingespielt. Die Situation jetzt trägt sicher zu guten Leistungen bei.
Wie kann man denn eine Mannschaft überhaupt weiterentwickeln, wenn man kaum Sommerpause und dann alle drei Tage ein Spiel hat?
Nagelsmann: In erster Linie durch den Fleiß der einzelnen Spieler. Sie müssen bereit sein, sich auch mal im Selbststudium die Videos anzuschauen, die wir ihnen online bereitstellen. Wenn ein Spieler fleißig ist, wird er sich dadurch entwickeln. Es gibt Studien die belegen, dass mentales Training einen sehr ähnlichen, wenn nicht sogar gleichen Effekt auf die Lernkurve hat wie normales Training. Außerdem haben wir verschiedenste technische Hilfsmittel. Wir haben bald auch eine Leinwand am Platz, um den Jungs die Dinge direkt nochmal zeigen zu können. Der Fleiß, der Hunger auf Entwicklung ist da, und das zeigt sich dann auch in guten Ergebnissen.
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Ist es denn für sie als Trainer anstrengender bei einer derart engen Taktung?
Nagelsmann: Solange du gewinnst, ist immer alles okay. Wenn du mal Phasen hast, in den du nicht so viel gewinnst, dann ist es viel anstrengender (lacht). Die Spiele sind aus Sicht eines Trainers ohnehin nicht so hart wie für die Spieler. Natürlich hast du drum herum viel zu tun, du musst Gegner anschauen, du hast viele Besprechungen. Aber das ist nun mal mein Beruf, dafür werde ich bezahlt und das ist auch kein Problem. Die Reisen sind schon eher anstrengend. Aber ich habe einen Beruf, den ich gerne ausübe, werde dafür überdurchschnittlich gut bezahlt und darf auch während der Corona-Pandemie Trainer sein. Mir sind all diese Privilegien sehr bewusst. Es gibt also keinen Grund, zu jammern, erst recht nicht, weil der Spielplan eng getaktet ist. Letztendlich sind wir doch alle wegen der Spiele Trainer, Spieler oder Fans geworden und nicht wegen des Trainings.
Als Profitrainer haben Sie noch keine längere Misserfolgsphase erlebt. Zufall, Glück oder gute Arbeit?
Nagelsmann: Zufall sicher nicht. Natürlich gehört auch immer ein Quäntchen Glück dazu. Aber mir fällt nichts in den Schoß, ich arbeite schon hart dafür und bin auch schon immer mutig in meinen Entscheidungen gewesen. Ich habe zwar noch keine selbstverschuldete Krise erlebt, aber ich habe Hoffenheim mit elf Punkten Abstand auf einen Nichtabstiegsplatz übernommen. In eine viel größere Krise kannst du als 28-jähriger nicht hineingeraten. Natürlich war die Ausgangslage nicht durch mich verschuldet. Trotzdem hatten wir damals dann ein sehr entscheidendes Spiel in Stuttgart, auf die wir sieben Punkte Rückstand hatten, und haben 1:5 verloren.
Das Gefühl kennt man in Dortmund…
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Nagelsmann: Und das war in unserer Situation das Gefühl maximaler Krise. Ich weiß nicht, ob es einen viel größeren Dämpfer geben kann für einen jungen Trainer. Wir haben es dann aber gemeinsam gut gemeistert und die richtigen Lehren daraus gezogen. Wir haben danach kein Spiel mehr verloren und Stuttgart hat keins mehr gewonnen. Das nur als Beispiel, dass ich auch schon die eine oder andere Krise durchlebt habe.
Die hatte Dortmund in dieser Saison auch, was zur Trennung von Lucien Favre führte. Hat sie das überrascht?
Nagelsmann: Ich weiß natürlich nicht, was Hans-Joachim Watzke, Michael Zorc und Sebastian Kehl intern besprechen. Aber medial habe ich schon mitbekommen, dass es in Dortmund nach Niederlagen immer relativ schnell rumort hat. Punktemäßig war Lucien ja sehr erfolgreich, vielleicht hat ihm ein großer Titel gefehlt. Ich habe Lucien immer gern getroffen und sehe seine Mannschaften auch gerne Fußball spielen. Er lässt Fußball spielen und nicht nur destruktiv die Bälle lang nach vorne schlagen.
Falls Dortmund nun bei Ihnen anfragt: Hätten Sie Interesse?
Nagelsmann: Ich habe hier einen Vertrag bei einem sehr guten Verein und habe große Ziele mit Leipzig. Da werden andere Trainer-Kandidaten medial zu Recht stärker thematisiert. In Leipzig muss ich keiner Sorgen machen, dass ich nach Dortmund wechseln werde.
Erst einmal ist nun Edin Terzic im Amt. Was halten Sie von ihm?
Nagelsmann: Wir haben in der Vergangenheit ein paarmal gesprochen, als er noch Co-Trainer war. Ich fand ihn unglaublich sympathisch und, soweit ich das aus der Ferne und aus Gesprächen bewerten kann, sehr fähig. Dortmund ist als erste Station aber sicher nicht einfach, weil man dort einen gewissen Anspruch hat. Ich finde seine medialen Auftritte und wie er über Fußball spricht gut, auch wenn es Experten gibt, die das anders sehen. Ich freue mich für Edin, dass er das Vertrauen bekommen hat.
Sie spielen auf Mehmet Scholl an, der nach einem Spiel die Ausdrucksweise von Terzic heftig kritisiert hat.
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Nagelsmann: Ich kenne Mehmet ein wenig und glaube zu wissen, was er mit solchen Aussagen bezwecken will – dass man den Fußball nämlich nahbar lässt und keine Wissenschaft daraus macht. Das finde ich grundsätzlich gut, damit uns der Fan nach wie vor versteht. Aber es ist normal, dass sich Sprache verändert. Mehmet meint zum Beispiel, dass man zum Strafraum nicht Box sagen sollte. Aber das ist nun einmal der englische Ausdruck und wenn ich viele englischsprachige Spieler in der Mannschaft habe, sage ich eben Box. Dass er den Ausdruck diametral abkippender Sechser nicht mag, was sein Lieblingsbeispiel ist, kann ich schon eher verstehen. Ich weiß aber nicht, ob so eine Kritik notwendig war, nachdem Edin Terzic erst eine Woche im Amt war. Mehmet hätte es andersrum wohl auch nicht so gerne gehabt, dass man so schnell über ihn urteilt.
Was erwarten Sie denn vom BVB unter Terzic?
Nagelsmann: Ein neuer Trainer versucht natürlich immer, einige Dinge zu verändern. Er spricht viel über Leichtigkeit und ich glaube, der Sieg am letzten Spieltag gegen Wolfsburg hat ihnen gut getan – obwohl es in den ersten zehn Minuten nicht aussah, als würden sie gewinnen. Ich erwarte, dass sie den Druck etwas spüren werden, den sie aufgrund ihrer Situation haben. Aber sie werden versuchen, sich daran zu erinnern, wie gut sie am 33. Spieltag bei uns gespielt haben, dass sie uns große Probleme bereitet haben, dass sie nach wie vor eine große Qualität haben und viel jugendliche Frische. Sie werden mit offenem Visier spielen und natürlich auf drei Punkte gehen.
Sie aber auch, oder?
Nagelsmann: Natürlich. Neun Punkte wären ein richtig schönes Polster gegenüber dem BVB, und darauf arbeiten wir auch hin.