London. Seit Fred Perry vor 76 Jahren hat kein Brite mehr in Wimbledon gewonnen. Die Last der Geschichte kann der Schotte Andy Murray schultern, das hat er bewiesen. Doch im Finale wartet der sechsmalige Champion Roger Federer. „Das wird eines der größten Spiele meines Lebens“, sagt Murray.

74 Jahre Schmerz, 74 Jahre Verzweiflung, 74 Jahre die Angst, niemand könne den Wimbledon-Fluch brechen: Die einst stolze Tennis-Nation Großbritannien atmete kollektiv auf, als Andy Murray als erster Brite seit 1938 ins Finale des wichtigsten Tennisturniers der Welt eingezogen war. Und was machte der Schotte? Er saß da, auf dem Podium, schaute müde in die erwartungsfrohen Gesichter und sagte: „Ich gehe morgen auf den Platz, werde genug Bälle schlagen und mich auf Sonntag vorbereiten.“

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So ist er, dieser 25-jährige Andy Murray aus Dunblane. Er ist emotional. Allerdings nicht dann, wenn es seine Landsleute von ihm erwarten. Dann wird er widerspenstig, zum Anti-Helden. Je größer der Druck, desto enger der Kokon, in dem sich Murray versteckt. Es ist sein Rezept, die Last der Geschichte zu absorbieren, und so nehmen es ihm die Briten nicht mehr übel. Er hat ihr Warten beendet.

Brite Brian Austin stand 1938 im Finale

„Die Worte 'keiner seit Bunny Austin' können endlich aus dem Lexikon des britischen Tennis' gelöscht werden“, schrieb die Tageszeitung Independent nach Murrays 6:3, 6:4, 4:6, 7:5 über Jo-Wilfried Tsonga. „Die Nation ist ungläubig vereint“, jubelte die ehrwürdige Times: „Das Unvorstellbare hat vor unseren Augen stattgefunden. Nichts Alltägliches, wie ein Auftritt von Elvis im „Dog and Fox“ in Wimbledon Village oder fliegende Schweine: Ein Brite hat das Finale von Wimbledon erreicht, zum ersten Mal seit Bunny Austin im Jahr 1938.“

Murray weiß um die Bedeutung seines Triumphs für die ganze Nation. Er kennt die hoffnungsfrohen Gesichter seiner Landsleute auf dem Centre Court und vor der großen Leinwand auf dem „Mount Murray“. Und natürlich hat er eine Ahnung davon, wie sie da saßen, vor ihren Fernsehschirmen und laut stöhnten, wenn er mal wieder im Halbfinale gescheitert war.

Dreimal war ihm das in Folge passiert und es wäre weniger dramatisch gewesen, wenn nicht schon Tim Henman (viermal), Roger Taylor (dreimal) und Mike Sangster (einmal) den finalen Schritt verpasst hätten. Es war unfair, Austins Geist auf Murrays Schultern zu setzen, doch gibt es außer ihm derzeit keinen britischen Tennisspieler, der die Last mittragen könnte.

Ivan Lendl leistete Hilfe

Zu Beginn des Jahres hatte sich Murray Hilfe beim großen Ivan Lendl gesucht. Diese Entscheidung sorgte für einigen Spott, denn warum sollte ausgerechnet der achtmalige Major-Champion, dessen einziges Tennis-Trauma der fehlende Wimbledontitel ist, den „Local Hero“ ins Finale des All England Clubs führen? Die Antwort ist eindrucksvoll und Murray unterstrich Lendls Anteil an seinem Erfolg mit einer Anekdote nach dem Sieg über Tsonga.

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„Ich habe mit Ivan gesprochen“, erzählte Murray: „Er hat gesagt: 'Gut gemacht. Wirklich. Wann willst du morgen trainieren?“ Das war es.' Während sich die Nation überschlägt, den „mächtigen Murray“ (Daily Star) als Bezwinger des „Schreckgespenstes“ (Sun) feierte und die Ticketpreise für das Finale am Sonntag im Internet zwischen 12.000 und 45.000 Pfund schwanken, basteln Andy und Ivan an einem Plan, die „Mission Impossible“ (Sun) - also das Unmögliche, möglich zu machen.

Seit Fred Perry vor 76 Jahren hat kein Brite mehr in Wimbledon gewonnen. Die Last der Geschichte kann Murray schultern, das hat er bewiesen. Doch im Finale wartet Roger Federer, sechsmaliger Champion und „der Beste aller Zeiten“, wie sein größter Rivale Rafael Nadal in einer Gastkolumne in der Times schrieb. „Das wird eines der größten Spiele meines Lebens“, sagte Murray. Für Großbritannien ist es das größte Match seit 74 Jahren. (sid)