Amsterdam. Treten oder zaubern? Vor der Europameisterschaft steckt Deutschlands wohl härtester Gruppengegner Niederlande in einer Identitätskrise. Vor allem in der Offensive hat Trainer van Marwijk die Qual der Wahl. Fast kein Team ist hier derart gut besetzt wie die Elftal - und jeder will spielen.
Einst gab es im Fußball keine Philosophien. Es gab nur Mentalitäten. Da waren die Spanier. Ein wenig wehleidig und in den entscheidenden Momenten nervenschwach. Da waren die Deutschen. Den Gegnern körperlich oft überlegen und technisch eher limitiert. Und da waren die Niederländer. Brillant am Ball, ihre genialen Kombinationen eine Augenweide. Heute ist Spanien Welt- und Europameister. Deutschland spielt wie die Niederlande und Oranje steckt vor der anstehenden EM in einer Identitätskrise.
Die WM von 2010 wirkt noch immer nach. In Südafrika präsentierte sich die Elftal effizient, diszipliniert - und zerstörerisch. Das brachte Platz zwei und den größten Erfolg seit dem Gewinn der EM 1988. 700.000 Fans jubelten der Mannschaft bei ihrer Rückkehr in Amsterdam zu. Manch einem Ästheten stand der Sinn jedoch überhaupt nicht nach Feiern. "Das war Anti-Fußball", sagte das niederländische Idol Johann Cruyff angesichts des aggressiven Final-Auftritts gegen Spanien. Mark van Bommel, Nigel de Jong & Co. hatten auf alles eingetreten, bis die Stollen glühten.
Deutscher Gruppengegner hat in der Offensive die Qual der Wahl
An den beiden Mittelfeldabräumern entzünden sich auch vor dem Turnier in Polen und der Ukraine, wo die Niederlande am 13. Juni zweiter deutscher Gegner in der Vorrundengruppe B sind, wieder die Diskussionen. Soll Bondscoach Bert van Marwijk erneut auf die eher rustikale Variante im zentralen Mittelfeld bauen? Statt "Voetbal total" mit Glanz und Gloria hieße das "Sicherheit total" mit Haken und Ösen.
Oder soll der Nationaltrainer neben dem wohl gesetzten van Bommel besser den technisch starken Rafael van der Vaart bringen? Fast schon eine Grundsatzentscheidung. Gewinner könnte am Ende Kevin Strootmann sein. Der 22-Jährige kann Beides: Ein bisschen treten, aber auch ein bisschen zaubern. Für Letzteres sollen bei der EURO aber vornehmlich andere Spieler zuständig sein. Die Oranje-Offensive ist so gut besetzt wie kaum ein zweiter EM-Teilnehmer und bringt es laut Transfermarkt.de auf einen Gesamtwert von über 170 Millionen Euro.
0:3-Niederlage gegen Deutschland war einziger Patzer der Niederlande
Wesley Sneijder, Arjen Robben, Dirk Kuyt, Ibrahim Afellay - dazu der vielseitig einsetzbare van der Vaart sowie die beiden Top-Torjäger Robin van Persie und Klaas Jan Huntelaar. Sieben Hochkaräter für nur vier Positionen. Bei so viel Gerangel hat nicht einmal Bayern-Star Robben seinen Platz in der Startelf sicher. In der Defensive kann van Marwijk von einem derartigen Überangebot nur träumen. Besonders auf der linken Außenbahn klafft nach dem Ausfall von Erik Pieters (Mittelfußbruch) eine große Lücke.
Ohne den 23-Jährigen wurden die in allen Belangen überforderten Niederländer im vergangenen November von der deutschen Mannschaft regelrecht zerlegt. 0:3 endete der Test in Hamburg. Es war jedoch der einzige Aussetzer den sich die Elftal seit der WM vor zwei Jahren leistete. Die EM-Qualifikation meisterte der Vizeweltmeister als Gruppensieger souverän und verlor bei neun Siegen nur das abschließende Spiel in Schweden (2:3). In die EURO geht man als Mitfavorit auf den Titel.
Trainer van Marwijk verlängerte seinen Vertrag kürzlich bis 2016
Van Marwijk, seit 2008 im Amt und von 2004 bis 2006 Trainer von Borussia Dortmund, sitzt folglich fest im Sattel. Ende vergangenen Jahres war sein Vertrag bis 2016 verlängert worden. Sollte seine Mannschaft bei der EM jedoch weder die Erfolgsbesessenen noch die Ästheten in der Heimat überzeugen, könnte es auch für den 60-Jährigen eng werden. Da ist die Mentalität in allen Ländern gleich.