Leverkusen. Bayer Leverkusen lieferte gegen den FC Bayern ein fast perfektes Spiel ab. Nach dem 0:0 sind die Münchener dem Titel aber sehr nahe.

Als die Spieler, Trainer und Führungskräfte von Bayer Leverkusen und Bayern München hinterher im Bauch der BayArena über den Bundesligagipfel und seine Auswirkungen sprachen, lief auf den Monitoren um sie herum immer wieder eine Szene des vorangegangenen Kräftemessens. Zu sehen waren jene Momente aus der Nachspielzeit, in denen Leverkusens Amine Adli aus sechs Metern mit seinem Volley an Torwart Manuel Neuer gescheitert war, ehe Florian Wirtz den Ball ebenfalls aus sechs Metern hauchdünn am Pfosten vorbeischob. Den rechten statt den in dieser Szene besseren linken Fuß hatte Wirtz intuitiv gewählt, und als er den verdienten Lohn am Tor vorbeirollen sah, schlug der er die Hände vors Gesicht und hielt so sekundenlang inne. Draußen sank sein Trainer Xabi Alonso auf die Knie, auch er konnte es nicht fassen.

War das womöglich der Moment, in dem Leverkusen die finale Chance auf den erneuten Gewinn des Meistertitels vorentscheidend entglitt? Es ist jedenfalls gut möglich, dass Adli und Wirtz diese Szene im Saisonrückblick noch einmal ertragen müssen, wenn erklärt wird, wieso die Münchener die Leverkusener als Meister abgelöst haben. Dafür spricht seit dem 0:0 am Samstagabend wegen der weiterhin acht Punkte Vorsprung der Bayern so ziemlich alles – außer deren Leistung. Erstaunlich einseitig war das Spiel zwischen dem amtierenden Meister aus Leverkusen und dem Tabellenführer aus München ja verlaufen. Hochüberlegen und meisterlich hatte nur der Titelverteidiger gespielt und fünf Großchancen heraufbeschworen, darunter die Lattentreffer von Jeremie Frimpong und Nathan Tella. Zum perfekten Spiel fehlte Leverkusen nur das Tor, um auf fünf Punkte an die Bayern heranzurücken und den Druck zu erhöhen. So aber sind die Münchener gefühlt fast schon Meister.

Bayern-Routinier Müller: „Ein wunderbarer Punkt für uns“

Einen „ganz wichtigen Punkt“ habe man sich erkämpft, bilanzierte Bayerns Sportdirektor Christoph Freund und räumte ein: „Das war das Maximum, was drin war für uns.“ Das hatte auch Thomas Müller von seinem Bankplatz aus erkannt. Doch weil der Ertrag nun mal entscheidend und der Vorsprung zwölf Spieltage vor dem Saisonende sehr komfortabel geblieben ist, befand der Offensivroutinier: „Es war für uns ein wunderbarer Punkt.“ Nur Joshua Kimmich ließ leichte Bedenken erkennen nach dem „glücklichen Punkt“, der ihnen zwar sehr weiterhelfe. Aber eigentlich habe man sich fest vorgenommen, den Vorsprung durch einen Sieg auf elf Zähler auszubauen, „auch wenn man es vielleicht nicht in jeder Phase erkennen konnte“, wie der 30-Jährige im ZDF-Sportstudio ironisch anmerkte.

Leverkusens Exequiel Palacios (links) gegen Bayerns Joshua Kimmich.
Leverkusens Exequiel Palacios (links) gegen Bayerns Joshua Kimmich. © Jürgen Fromme/firo Sportphoto | Jürgen Fromme

Nur zwei Abschlüsse standen für die Bayern am Ende in der Statistik, keiner davon kam aufs Tor. Ohne Torschuss in die Pause gegangen zu sein, stellte für die Bayern sogar ein Novum seit 1992 oder 1100 Spielen dar, seit diese Daten erfasst werden. War das nun also die Vorentscheidung im Titelkampf? „Drei Niederlagen, es geht schnell im Fußball. Ich hoffe natürlich nicht, dass es so weit kommt“, antwortete Kimmich. Sein bissiger Nachsatz ließ tief blicken. Kimmich sagte am Samstagabend in Bezug auf das Playoff-Rückspiel in der Champions League am Dienstag gegen Celtic Glasgow: „Ich hoffe, dass wir in drei Tagen auch wieder ab und zu den Ball haben.“

Bayern München wirkt hilflos

Der Ballbesitzwert von 44 Prozent war in Leverkusen noch das geringste Problem der Bayern gewesen. Eher schon musste ihre Ballbesitzqualität zu denken geben. Ziemlich hilflos wirkten die Münchener gegen das aggressive Pressing im eins gegen eins der Leverkusener. Noch mehr zu denken geben musste, dass die Bayern nie eine Antwort darauf fanden, keinen Plan B. Der fürs Coaching zuständige Vincent Kompany gab sich unbeeindruckt. „Wenn sich eine Mannschaft verdient, dass wir mal tiefer verteidigen müssen, dann ist es halt so“, sagte Bayerns Trainer und erinnerte an das 1:1 aus der Hinrunde, „da waren wir sehr dominant“. Wer es kritisch sehen wollte, konnte darauf verweisen, dass seither offenbar nur Leverkusen Rückschlüsse gezogen und eine Entwicklung durchlaufen hat. Im Pokal-Achtelfinale hatte die Werkself 1:0 in München gewonnen. Insgesamt baute sie ihre Bilanz gegen die Bayern unter Alonsos Anleitung nun auf je drei Siege und drei Remis aus. Auch das erzählt etwas darüber, dass den Münchenern ein ernsthafter Rivale erwachsen ist. Und im Achtelfinale der Champions League könnte man sich schon im März zweimal wiedersehen.

Die Hoffnung auf die erfolgreiche Titelverteidigung in der Bundesliga wollen die Leverkusen trotz des ernüchternden 0:0 nicht aufgeben. Die Frage, wie hoch er die Chance darauf einschätze, beantwortete Jonathan Tah zwar mit einer Gegenfrage: „Gibt es eine KI? Ich weiß es nicht.“ Dennoch glaube er weiter an ihre Chance, und zwar „absolut, zu hundert Prozent. Ich habe keine Zweifel, dass noch was geht.“ Das lag wohl vor allem am bleibenden Eindruck der Münchner Verwundbarkeit und der Leverkusener Dominanz, mit der sie die Bayern beherrscht hatten wie kaum je ein Gegner zuvor. Tahs Kollege Granit Xhaka formulierte er so: „Sie haben uns heute gespürt, das ist das Wichtigste.“ Verbunden damit ist die Hoffnung der Leverkusener, dass das im letzten Saisondrittel noch Wirkung zeigt.