Leverkusen. Bayer Leverkusen verspielt gegen Holstein Kiel eine 2:0-Führung. Das ungeahnte Problem der Werkself hat sich schon länger angebahnt.
Nach ziemlich genau zwei Jahren als Trainer von Bayer Leverkusen kommt Xabi Alonso ziemlich gut durch den Alltag mit seinen Deutschkenntnissen. Ins Englische wechselt er nur noch in seltenen Ausnahmenfällen, wenn er komplexe Zusammenhänge beschreiben möchte. Oder wenn er Begriffe benötigt, die bisher nicht vorgekommen in seiner Leverkusener Erfolgsoase. So wie nach dem erstaunlichen 2:2 seiner Meisterfußballer gegen Holstein Kiel.
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Bislang gab es für Alonso ja kaum Anlass, seine Spieler öffentlich mit Vorwürfen zu konfrontieren, die auf die Haltung und die Einstellung abzielen. Am Samstag jedoch sah sich der Spanier gezwungen, eine unangenehme Wahrheit auszusprechen – was ihm fehlte, war das passende deutsche Wort. „Ich würde nicht sagen Arroganz, aber ich würde sagen: ein bisschen Complacency“, erwiderte der 42-Jährige auf die Frage nach den Ursachen für die vielen kleinen Nachlässigkeiten im Spiel seiner Mannschaft. Was sich in anderen Partien dieser Saison angedeutet hat, ist zu einer echten Erkenntnis geworden: Das Gift der „Selbstzufriedenheit“ hat sich eingeschlichen bei den über ein Jahr von einem scheinbar unstillbaren Hunger angetriebenen Leverkusenern.
Bayer Leverkusen: Mahnende Worte von Xhaka wurden nicht gehört
Wieder einmal hatten sie begonnen wie überlegene Virtuosen: Der Ball lief, Kiel hechelte hilflos hinterher, nach acht Minuten stand es nach Toren von Victor Boniface und Jonas Hofmann 2:0. Ein zweistelliger Sieg schien wahrscheinlicher als das Unentschieden, das herauskam. Doch die tänzerische Fußballkunst wich einem Konvolut kleiner Nachlässigkeiten. „Wir waren nicht intelligent“, sagte Alonso, „nach dem Vorsprung dachten wir, das Spiel ist vorbei.“ Für die Kieler traf kurz vor der Pause Max Geschwill (45.), Fiete Arp erzielte per Foulelfmeter das 2:2 (69.). Leverkusen konnte ausnahmsweise mal nicht die notwendige Energie für einen späten Siegtreffer aufbringen.
Neu ist das Problem allerdings nicht bei Bayer 04. Granit Xhaka hatte bereits nach dem Saisonauftakt in Mönchengladbach auf Nachlässigkeiten beim Verteidigen hingewiesen, nachdem seine Mannschaft erst durch einen umstrittenen Elfmeter in der Nachspielzeit mit 3:2 gewonnen hatte. Im Anschluss an das ebenfalls durch ein sehr spätes Tor entschiedene 4:3-Drama gegen Wolfsburg wütete Xhaka regelrecht: „Wir können nicht so weitermachen. Wir können nicht so naiv verteidigen“, der Schweizer sprach von einem „Riesenweckruf“. Wach geworden sind die Leverkusener allenfalls für die Phase mit den Topspielen beim FC Bayern und in der Champions League gegen Milan. Nun erlitten sie einen Rückfall.
Bayer Leverkusen: Das alte Phlegma ist wieder da
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Es scheint ein Motivationsproblem im Team zu geben. Das zwar erkannt wurde, es fehlt jedoch eine passende Lösung. „Wir sind Meister, alles schön und gut“, sagte Torhüter Lukas Hradecky, der am Samstag Xhakas Rolle des Mahners übernahm. „Wir waren Meister, weil wir jedes Spiel angegangen sind wie die Verrückten.“ In der gängigen Interpretation der Meisterschaft wurde Alonso dafür gefeiert, das tief im Klub verwurzelte Phlegma vertrieben zu haben. Der Champion, der als Spieler alles gewonnen hatte, schien Bayer Leverkusen in die tiefsten Geheimnisse des Erfolges eingeweiht zu haben. Nun wirkt der Trainer zum ersten Mal ein wenig ratlos.
Er benennt die Probleme präzise, Bayer Leverkusen kann weiterhin hervorragend spielen und das 1:1 in München sowie der 1:0-Sieg gegen Mailand haben gezeigt, dass der Meister sich schon entwickelt: Die Werkself hat gelernt, Phasen gegnerischer Dominanz durch hingebungsvolle Defensivarbeit zu überstehen. Aber sie bekommen das nicht mehr auf den Alltag übertragen. In der vergangenen Saison ließen die Leverkusener in 34 Partien nur 24 Gegentore zu, nun sind es nach sechs Spielen bereits zwölf. „Diese Statistik ist Wahnsinn“, sagte Hradecky, der über die Gründe rätselt. Er wisse nicht, „ob das an jedem einzelnen liegt, oder am mannschaftlichen Klima“, sagte er.
Bayer Leverkusen: Xabi Alonso bekommt Probleme nicht in den Griff
Damit steht Alonso zum ersten Mal in seiner Zeit als Leverkusener Trainer vor einem ernsten Problem, das er über viele Wochen nicht in den Griff bekommt, zumal die Spielweise seiner Mannschaft eine Lösung erschwert. Denn tatsächlich gibt Bayer Leverkusen durch diesen rauschhaft überlegenen Fußball, den das Team oft spielt, nicht nur dem Publikum, sondern auch sich selbst das Gefühl, einfach viel besser zu sein als die Gegner. In der Folge lassen die Spieler sich jedoch dazu verführen, entgegen aller Vernunft doch ein klein wenig nachzulassen, was alle kommenden Gegner motivieren muss. Es lohnt sich, auch nach Rückständen Widerstand zu leisten, denn irgendwann hilft derzeit die Selbstzufriedenheit der Meisterfußballer vorm Rhein.