San Juan. Zwei Wochen vor seinem 22. Profikampf, bei dem es um den Latino-Titel der World Boxing Organisation (WBO) geht, hat sich Orlando Cruz zu seiner Homosexualität bekannt und bekam so viel Aufmerksamkeit bekam der puertoricanische Profi-Boxer noch nie. Cruz ist ein Boxer der zweiten Reihe. Am 19. Oktober kämpft er um einen Titel.
So berühmt wie letzte Woche, als er nur mit dem Mund gefochten hat, ist Orlando Cruz noch nie gewesen. In 21 Duellen im Profibox-Ring seit Ende 2000 hat der 31-jährige Federgewichtler aus Puerto Rico nicht ansatzweise die globale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm jetzt zuteil geworden ist. Warum denn auch: Bisher war er ein passabler, aber nicht herausragender Faustkämpfer, der nach 18 Siegen und zwei Niederlagen an Position 36 der unabhängigen Weltrangliste geführt wird. Ein Mann der zweiten Reihe, wie man so sagt.
Zwei Wochen vor seinem 22. Vergleich, bei dem es um den Latino-Titel der World Boxing Organisation (WBO) geht, hat der Rechtsausleger sich in seiner Wahlheimat Florida nun zu seiner Homosexualität bekannt. Er sei stets „ein stolzer Puertoricaner“ gewesen, beschied Cruz Reportern des übertragenden US-Sportsenders ESPN, und werde ebenso „immer ein stolzer Homosexueller sein“. Das war offenbar schon genug, um seine Story um die halbe Welt zu schießen. Kaum eine Agentur und kein Sport-Portal ließen sich das öffentliche Bekenntnis entgehen – womit der Spitzname des Urhebers, „El Fenómeno“, eine neue Dimension erhält.
Unreflektierte Vorstellungen
Viele Redaktionen hatten die Nachricht mit dem Zusatz versehen, dass Cruz’ Outing das Erste seiner Art in der Boxwelt sei. Und nicht zu Unrecht auf die besondere Brisanz verwiesen, die so eine Selbstaussage in diesen Kreisen hat. Denn ähnlich wie die Karibik-Insel als Teil der Latino-Welt, wird auch die Mikroszene des Boxens seit jeher von der Alltags-Kultur des Machismo dominiert. Wo tapfere Männer halbnackt fäusteln, wähnen sich seine Kostgänger wie selbstverständlich auf einer Insel der heterogenen Männlichkeit.
Harter Hetero, weicher Homo: Der landläufige Boxfan hat seine schlichte Gender-Philosophie den unreflektierten Vorstellungen entlehnt, die um den Ring sowie an der Theke von Sportbars seit Jahrzehnten eins zu eins tradiert werden. Dort hocken sie nämlich, jene „seltsamen Menschen“, denen der deutsche Poet und bekennende Boxfan Wolf Wondratschek bereits vor dreißig Jahren ein noch gültiges Denkmal setzte: „Männer, die in aller Öffentlichkeit furzen und zu Hause Ölbilder malen.“ Für solche ist ein schwuler Boxer ein Widerspruch in sich – weil so einer sich gar nicht entscheidend durchsetzen könnte, wie sie gern glauben.
Beispiele gibt es genügend
Dabei gibt es auch in der Folge der Titelträger und Olympioniken genügend Beispiele, die solche Klischees in Frage stellt. Beginnend mit Alfonso Teófilo Brown, der von 1929 bis 1938 mehrfach Weltmeister im Bantamgewicht war. Der ungewöhnlich große, farbige Panamaer gelangte über New York nach Paris, wo er in Dave Lumiansky bald nicht nur einen versierten Manager, sondern auch einen festen Partner fand. In der Boheme der Metropole konnte der Ausnahmeboxer (131 Siege in 163 Kämpfen) sein flamboyantes Leben offener als sonstwo in diesen Zeiten führen – inklusive einer späteren Liaison mit dem surrealistischen Schriftsteller Jean Cocteau.
Ein explizites Bekenntnis aber hatte er zeitlebens nicht riskiert. Das gab, zumindest im Nachhinein, Emile Griffith ab, der zwischen 1961 und 1968 mehrfach WM-Titel im Welter- und Mittelgewicht gewann. Der enorm kampfstarke Profi von den Virgin Islands, hatte zahlreiche Box-Legenden besiegt – und seinen Erzrivalen Benny „Kid“ Paret, der ihn vor ihrem Kampf überaus abschätzig „Maricon“ („Schwuchtel“) gerufen hatte, ohne Absicht in den Ringtod geprügelt.
Griffith wollte sich als Aktiver nicht outen
Das aber hatte die Boxwelt ihm schneller verziehen als seine sexuelle Neigung, wie er sich in seinen Erinnerungen wunderte. „Ich töte einen Mann, und die meisten Leute verstehen das und verzeihen mir“, so Griffith. „Andererseits liebe ich einen Mann, und so viele halten es für eine unverzeihliche Sünde, die mich zu einem schlechten Menschen macht.“ Griffith hatte sich „fast mein ganzes Leben lang eingesperrt“ gefühlt, da er sich als Aktiver nicht zu outen getraute.
Diese Kühnheit blieb dem Kanadier Marc Leduc vorbehalten, der sich zwei Jahre nach dem Gewinn der olympischen Silbermedaille im Halbweltergewicht (1992) öffentlich erklärte – im Film „For the Love of the Game“, der seinen Aufstieg vom jugendlichen Delinquenten zu einem der besten Amateure seines Landes dokumentiert. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ab, dass Leduc es bei den Profis nicht weit bringen würde – nach fünf Vergleichen war für ihn endgültig Schluss.
In diesem Sinne ist die „Causa Cruz“ zumindest eine kleine Premiere, weil hier vielleicht erstmalig ein überaus aktiver Profi-Boxer Farbe bekennt. Beim TV-Sender ESPN darf man zum 19. Oktober gespannt sein: Dann wird sich erweisen, ob nun mehr oder weniger Fans live erleben wollen, wie viel „El Fenómeno“ Cruz als Titelanwärter taugt.