Essen. Wenn Deutschland auf Italien trifft, ist vom Klassiker die Rede - so wie am Donnerstag im Halbfinale der Europameisterschaft 2012. Warum, das verraten fünf Sportredakteure in ganz persönlichen Rückblicken - auf WM-, EM- und Testspiel.
17. Juni 1970, WM in Mexiko - Halbfinale in Mexiko-City: Italien – Deutschland 4:3 n.V.
Das Fernsehbild ist noch schwarzweiß, der Reporter überträgt seinen rauschenden Kommentar per Telefon, vor Ort kocht der Nachmittag. In Deutschland ist es Nacht, ein Fünftklässler sollte zu dieser Zeit tief schlafen.
Doch dieser Fünftklässler wird irgendwann wach, weil die Eltern diskutieren. Er bekommt mit, dass es um das Spiel geht, das für ihn tabu sein sollte. Er schleicht sich im Schlafanzug hinter einen Vorhang. Er sieht, wie Karl-Heinz Schnellinger in letzter Minute den Ball mit einem beherzten Grätschsprung über die Linie befördert. Er hört, dass Ernst Huberty unfassbar cool sagt: „Ausgerechnet Schnellinger.“ Der Mann, der seine Pasta beim AC Mailand verdient.
Verlängerung. Beckenbauer renkt sich die Schulter aus, spielt mit dem Arm in der Schlinge weiter. 2:1 Müller, 2:2 Burgnich, 2:3 Riva, 3:3 Müller. Dann holt Rivera zum K.o.-Schlag aus. Drama hoch zehn. Es ist das Jahrhundertspiel.
Vorhang zu. Und die Eltern haben keine Ahnung, warum die Augen des Jungen am Morgen halb geschlossen sind, während er sein Brötchen futtert. (Peter Müller)
Klaus Wille über das WM-Finale 1982 - Gerechte Strafe für die deutschen Flegel
11. Juli 1982, WM in Spanien - Endspiel in Madrid - Italien – Deutschland 3:1
Patriotismus, schön und gut. Aber Deutschland 1982 als Weltmeister? Ein unerträglicher Gedanke. Die Mannschaft grätscht und flegelt sich durchs Turnier, ein Leichtathlet namens Hans-Peter Briegel ist Stammspieler, ach was Spieler, Stammkraft. Es gibt die Schande von Gijon und schon deswegen wäre ein Aus nach der Vorrunde gerecht gewesen.
Dann haut Schumacher erst dem Franzosen Battiston die Zähne und danach den dummdreisten Spruch mit den Jackettkronen raus. Und überhaupt: Birne wird bald Kanzler, das Abi läuft nicht, der Bund droht. Das Leben könnte schöner sein. In Italien zum Beispiel. In Italien ganz bestimmt.
Im Finale holzt Briegel auch noch meinen alten Liebling Graziani vom Feld. Es reicht, Strafe muss sein. Es gab da einen Partykeller, ein paar halbherzig mitfiebernde Deutsche und einen Verrückten, der bei jedem Finaltreffer der Blauen gejubelt hat. Weil es manchmal auch im Sport gerecht zugeht. (Klaus Wille)
Dirk Graalmann über das EM-Gruppenspiel 1996 - Der Tag, an dem ich Bodo Illgner vergaß
19. Juni 1996, EM in England, Gruppenspiel in Manchester: Deutschland – Italien 0:0
Es war der Sommer der Freiheit. Das Studium beginnt, die Nächte sind für uns gemacht, der Morgen danach, richtig, egal. Alles wird anders im Leben. Fast alles. Deutschland soll gewinnen. Immer noch. Nun ja, ein Unentschieden reicht auch. Zumindest gegen die Italiener. Aber fehlt uns Deutschen nicht Bodo Illgner, der Weltmeister aus Köln? Im Tor steht nun ein gewisser Andreas Köpke, der gerade mit Frankfurt die fünfte Talfahrt mit seinem fünften Klub bewerkstelligt hatte. Ein Absteiger. Und dann? Hält er den Elfer von Gianfranco Zola; und hält, und hält und hält. Deutschland hat keine Chance. Und spielt 0:0 – und ist zwei Wochen später Europameister. Und Bodo Illgner habe ich nie wieder vermisst. (Dirk Graalmann)
Manfred Hendriock über das Testspiel 2006 - „Italia quattro. Germania uno. Buona notte.“
1. März 2006, Testspiel in Florenz: Italien – Deutschland 4:1
Die Worte des Stadionsprechers nach dem Abpfiff klangen noch lange in den Ohren: „Italia quattro. Germania uno. Buona notte.“ Doch für Deutschland schien in dieser Nacht, genau 100 Tage vor der WM im eigenen Land, die Welt unterzugehen. Selten war eine deutsche Nationalelf so vorgeführt worden wie beim 1:4 in Florenz. Der DFB rief direkt nach der Rückkehr aus Florenz eine Pressekonferenz ein, bei der man sich als Reporter alles vorstellen konnte. Doch Jürgen Klinsmann blieb.
Über ihn war freilich ein Sturm aufgezogen. Franz Beckenbauer warf ihm sogar eine schlechte Kinderstube vor, weil Klinsmann fünf Tage später lieber bei der Familie in den USA weilte als beim Workshop aller Nationaltrainer in Düsseldorf: „Jeder geht mit seinem Bereich so um, wie er erzogen wurde.“ Selbst in seriösen Medien wurde „die neue T-Frage“ gestellt und Klinsmann zuweilen als Scharlatan dargestellt, der „das Land geblendet“ habe. Der Sturm blies drei Wochen – bis zum nächsten Testspiel gegen die USA in Dortmund. Ein 4:1-Triumph. Und Klinsmann sagte später, viel später: „Es war lehrreich zu sehen, dass man mich kippen wollte wegen eines verlorenen Spiels.“ (Manfred Hendriock)
Ralf Birkhan über das WM-Halbfinale 2006 - Ein Klassiker? Es wird mir alles zu viel
4. Juli 2006, WM in Deutschland, Halbfinale in Dortmund: Deutschland – Italien 0:2 n.V.
Warum sollte ich lügen? Ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Halbfinale gesehen habe. Es wird längst zu viel mit allen Klassikern. Holland, England, Italien, irgendwas ist immer, und immer ist es das große Duell der alten Rivalen.
Weißt du noch? Nein, weiß ich nicht!
Ich habe nachgeschaut in der Statistik: Grosso (119.) und del Piero (120.) haben damals im Halbfinale die späten Tore erzielt, Ende des Sommermärchens.
Der letzte Klassiker war übrigens bei dieser EM. Deutschland gegen Holland. Haben wir gewonnen. 2:1, oder? (Ralf Birkhan)