London.. London hat bei dem Sportspektakel ganz neue Seiten an sich entdeckt – eine Wende, die der zerrissene, knurrige Gigant bitter nötig hat. Das Land wird nach zwei Wochen Goldrausch aber unsanft im Alltag aufwachen.
Montagmorgen, Nieselregen, Katerstimmung: Wer heute Früh in der britischen Olympia-Metropole aufwacht, wird sich beim Blick aus dem Fenster fragen, ob er die letzten 17 Tage nur geträumt hat. Sonnenschein, Goldmedaillen, glückliche Gesichter: London hat bei dem Sportspektakel ganz neue Seiten an sich entdeckt – eine Wende, die der zerrissene, knurrige Gigant bitter nötig hat.
Ein lauer Sommerwind streicht durch die Blumenwiesen am Olympiapark. Gräser, Kornblumen, Margariten und Lavendel säumen die Sportstätten, Kinder kugeln vergnügt die hügelige Rasenlandschaft hinunter. Es ist der letzte Wettkampftag, Wehmut mischt sich in die Euphorie der letzten Wochen. „Im Park hat das Herz der Welt geschlagen“, sinniert IOC-Präsident Jacques Rogge. Bürgermeister Boris Johnson, ohne einen derartigen Hang zur Sentimentalität ausgestattet, zückt vor Erleichterung lieber den verbalen Mittelfinger: „Nachricht an alle Katastrophenschwafler: Ihr habt Euch geirrt. Diese Spiele waren ein riesiger Erfolg.“
Ganz alltägliche Chaos war die Hauptsorge
Ein Erfolg, mit dem Großbritannien sich selbst am meisten überrascht hat. Bis zum Start wollte kaum jemand etwas von der „Extravaganz“ hören, jetzt schwelgen Briten von Glanz und Unvergesslichkeit. London, diese Stadt der tausend Pannen, ist plötzlich die Stadt der Sieger, der tadellosen Gastgeber und - ein Wunder - der störungsfreien U-Bahn. Alisa Butler gehört zur großen Schar der Olympia- Bekehrten. „Wie so viele andere Hauptstädter hatten auch wir vor, die Flucht zu ergreifen“, gesteht sie. „Jetzt bin ich froh, dass wir hier geblieben sind.“ Das ganz alltägliche Chaos in der Acht-Millionen-Metropole war ihre Hauptsorge. Vor Auftakt war sie sich sicher: „London wird sie vor den Augen der ganzen Welt blamieren.“
Kurze Rückblende zum Juli: Wochenlang hatte es geregnet, dann fehlten plötzlich 4000 Ordner, Soldaten mussten als Lückenbüßer aus Krisenregionen eingeflogen werden. Im Land herrschte so viel Optimismus wie am Tag vor der Apokalypse. Dann kam die Eröffnungsfeier – nicht in Form gedankenlosen Bombasts, sondern als vielschichtige, kluge Hommage an Kultur, Geschichte und Gegensätze Großbritanniens. Außenseiter, wie die Ruder-Novizin Helen Glover, holten das erste Gold. Der Verkehr rollte, die Sonne schien. Wenn die Amerikaner in der Zeit auf dem Mars gelandet wären, hätte es auf der Insel niemand bemerkt. Die Nation blickte auf telegene Bilder vom Reitern vor Londons schönsten Panorama und meinte, Hollywood würde Regie führen.
Presse verleiht Titel "Die sanften Spiele"
Besucher steckten die Einheimischen mit ihrer Begeisterung an. „Sagenhaft“, schwärmt Artie Westerfield aus New York City, ausgerechnet. Der 15-jährige Bettina aus Pforzheim lobt die „Ungezwungenheit“: „Man sieht verschleierte Frauen und Frauen im Mini-Rock nebeneinander – und es funktioniert.“ Die britische Presse hat Olympia 2012 den Titel „Die sanften Spiele“ verliehen. Rory Lamb, der Samstag für die Verkehrsbetriebe am U-Bahn-Schacht stand und die hundertste Frage nach der nächsten Toilette geduldig beantwortete, hat das neue Flair längst bemerkt: „Es ist viel entspannter und fröhlicher als sonst mit den Berufspendlern.“
Spätestens am Ende der ersten Woche war alles Zaudern und Hadern der Briten vergessen. Auch im Hause Butler. Radrennen, Schwimmen – was auch immer ohne Tickets bejubelt werden konnte, wollte das Ehepaar nicht länger als zweifelndes Seismologen-Team, sondern als Fans erleben. Am „Super Saturday“, dem Tag, an dem das Königreich gleich sechs Goldmedaillen gewann, sind die beiden schließlich ins Zentrum gefahren. Um Mitternacht wurden die olympischen Ringe von der Tower Bridge abgelassen. Für wenige Minuten schwebten sie in der Mitte des Bauwerkes, dann schob sich der runde Mond als sechster in die fünf Ringe. Es ist einer der wenigen Momente, in dem Alisa Butler sich in ihrer eigenen Stadt hat fotografieren lassen.
So viel Selbstwertgefühl im Land ist neu. Zu frisch sind die Erinnerungen an letztes Jahr, als marodierende Jugendliche vor den Augen der hilflosen Polizei durch London marodierten. Die Bilder gingen um die Welt. Von einer „kaputten Gesellschaft“, von Mangel an Respekt und maßlosem Anspruchsdenken, sprach da Premier David Cameron. Kluge Köpfe verwiesen bei der Gelegenheit auf die Banker in der City: Machte sich hier nicht ebenfalls gerade eine raffgierige Bande über fremden Wohlstand her? Jetzt hat das Projekt Olympia das Land samt Zynikern versöhnt – und stolz gestimmt, zum ersten Mal seit den Unruhen in Tottenham und der Wut auf Londons Finanziers.
"Team GB" sorgt für mittelgroße Fußball-Revolution
„Ich habe selten so viele Union-Jack-Flaggen gesehen wie in der letzten Woche“, sagt Butler. Ein „Team GB“, das gibt es ja auf der Insel eigentlich gar nicht. Beim Fußball treten Wales, England, Schottland gegeneinander an. Ein Team, unter einer Flagge - das ist fürs Königreich eine mittelgroße Revolution. Selbst Butler, sonst dezidiert Waliserin, fühlt die patriotische Mini-Woge: „Ich war stolz, Britin zu sein, als wir beim Schwimmwettkampf dem hoffnungslos Letzten den lautesten Applaus geschenkt haben.“
Über eine Milliarde Euro mit Fanartikeln verdient
Sympathien für die Unbeugsamen, tolle Stimmung, Erfolge durch harte Arbeit: Fast scheint es, als hätten Briten in den zwei Wochen ein neues Leitbild für die Nation entdeckt. Selbstlosigkeit, nicht Gier, gehört dazu: 70.000 unbezahlte Freiwillige, die „Games Makers“, haben mit riesigem persönlichen Einsatz Millionen Gäste betreut. Auch die Investition in Zuwanderer hat sich für viele erst jetzt sichtbar ausgezahlt: Großbritanniens größte Gold-Helden - Mo Farah, Nicola Adams und Jessica Ennis – haben ihre Wurzeln im Ausland. Dass das moderne Königreich durch seine vielen Kulturen stärker ist, befinden seit Olympia immerhin 70 Prozent der Befragten einer aktuellen ICM-Studie.
Über eine Milliarde Euro will Locog mit Olympia-Fanartikeln schon verdient haben. Die Händler am anderen Ende der Stadt, im West End, tröstet das nicht. Für sie war Olympia ein Trauerspiel. 75 Prozent Minus hat ein Schuster bei Piccadilly Circus seit dem Auftakt verbucht. Vito Calabrise, Kellner im Caffe Concerto auf der Regent Street, klagt über 35 Prozent weniger Kundschaft. Im Royal China Shop nebenan will man diesen Monat am liebsten ganz vergessen: „Nach den Spielen dauert es bestimmt weitere zwei Wochen, bis alles wieder normal läuft.“ Pub-Besitzer stöhnen, weil Olympia-Bekehrte lieber mit dem Bier vor dem Fernseher zuhause sitzen wollten. Mikrowellen-Gerichte haben sich in den letzten zwei Wochen bombig verkauft. Die Taxi-Fahrer sind erst recht böse: „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt Jim O’Sullivan, der mit seinem Black Cab direkt am Stadion in Stratford wartet, „ich mag Sport, aber Olympia war für mich ein Business-Flop. Die einzigen Taxis, die man während der Spiele sehen konnte, sind die Black Cabs, auf denen die Spice Girls im Finale tanzen.“ Er hält es mit 35 Prozent der Briten, die das Sportfest als „teure Ablenkung von wirtschaftlichen Problemen“ sehen.
In der Tat wird das Land nach zwei Wochen Goldrausch unsanft im Alltag aufwachen. Keines der Probleme ist verpufft: Die Wirtschaft kriselt weiter, die Koalition ist so verkracht, dass selbst Neuwahlen eine Option sind. Im East End stehen nun tolle Sportstätten, im Rest des Landes müssen Schulen aus Geldnöten ihre Sportplätze verscheuern. Letzte Woche hat das Land die Bauchmuskeln des 18- jährigen Turmspringers Tom Daley bewundert, heute blicken alle wieder auf ihre eigene Realität. Und darin sind Großbritanniens Kinder, die dicksten in Europa, kein Gramm leichter geworden. Doch der Ehrgeiz, nach den perfekten Spielen nun auch die anderen Hürden zu meistern, ist groß. Ein Anfang ist gemacht: 1,2 Milliarden Euro für den Schulsport, gestern von Premier Cameron zugesagt, sollen das Vermächtnis von Londons glanzvollen Spielen sichern.