Rio de Janeiro. Für Bastian Schweinsteiger ist mit dem WM-Titelgewinn ein Traum in Erfüllung gegangen. Seine Leistung im Finale gegen Argentinien war nicht nur eine Botschaft an die Zweifler, sondern ein Manifest in eigener Sache von Schweinsteiger, dem Ungetüm.
Der Anblick Bastian Schweinsteigers nach dem Spiel sagte alles. Er sah aus als hätte ihn jemand 120 Minuten lang über den Rasen geschleift: Das Trikot, die Hose, die Stutzen waren übersät mit Flecken, die blutende Wunde unter dem rechten Auge leuchtete rot. Aber der Eindruck täuschte. „Ich bin leer“, sagte Deutschlands Mittelfeldstratege hinterher im Untergeschoss des Maracana-Stadions, „ich versuche, den Moment zu genießen. Es war ein Kampf, aber es musste sein.“ Es sind keine typischen Sätze eines Gewinners. Eher die eines Heroen.
Schweinsteiger war den unglaublichen Kräften dieses magischen Abends – anders als der optische Eindruck glauben machen könnte - nicht hilflos ausgesetzt, im Gegenteil. Er hatte dieses Spiel an sich gerissen, es hinter sich hergeschleift, zunehmend ächzend, aber alle Hindernisse überwindend, immer vorwärts. Er war von seinen argentinischen Gegenspielern getreten und geschlagen worden, fiel hin, stand wieder auf. Bezeichnend, dass so das Spiel endete: Foul an Schweinsteiger, Schlusspfiff - und die abenteuerliche Reise des Bastian Schweinsteiger endete am 13. Juli 2014 in Rio de Janeiro. In Tränen.
Tränen des Glücks in Poldis Armen
Dieses monströse Duell, an dessen Ende der 1:0-Sieg stand, erhebt Bastian Schweinsteiger in den fußballerischen Heldenstatus. Er weinte in den Armen von Miroslav Klose, weinte in den Armen von Lukas Podolski, weinte Tränen des Glücks und der erfüllten Sehnsucht, ehe das Feuerwerk für den Weltmeister rot, grün und gülden in den Himmel spritzte und eine Kulisse schuf, die Hollywood hätte arrangiert haben können. Der Fußball-Tempel Maracana hat viele Geschichten erlebt, die von Schweinsteiger als Galionsfigur einer Generation, die erst das das bittere Scheitern lernen musste, ehe es den süßen Triumph probieren durfte, ist sicher nicht die schlechteste.
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„Wenn ich mich daran erinnere, wie wir 2006 auf der Fan-Meile waren und uns die Leute applaudiert haben, dann fühlt es sich gut an, dass sie jetzt alles zurückbekommen haben“, sagte der 29-Jährige im Untergeschoss der Arena in Rio. Damals, mit Platz drei bei der WM im eigenen Land, begann alles so richtig. Mit Schweinsteiger, mit Philipp Lahm, Lukas Podolski, Miroslav Klose und Per Mertesacker. Sie spielten verheißungsvoll Fußball, sie erreichten bei jedem folgenden Turnier mindestens das Halbfinale, sie sind auch heute noch dabei. Aber der große Coup blieb ihnen lange verwehrt. Sie seien keine Gewinnertypen, hieß es. „Dass wir jetzt belohnt werden, das ist eigentlich das Schönste“, sagt Schweinsteiger. Das Wort Genugtuung benutzt er nicht, aber dieses Gefühl muss irgendwo in ihm sein. Zu sehr zweifelten seine Kritiker an ihm.
Ein Manifest in eigener Sache
Sie sagten, er sei kein guter Anführer. Sie sagten, im entscheidenden Moment sei kein Verlass auf ihn. Die Vergangenheit lieferte ihnen sogar Argumente: Schweinsteiger vermochte es nicht, den wirklich großen Triumph herbeizuführen. 2012 bildete den Tiefpunkt seines Schaffens. Im Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea traf er im Elfmeterschießen nur den Pfosten. Wochen später schleppte er sich angeschlagen durch die EM in Polen und der Ukraine und nährte den Verdacht, dass seine besten Zeiten womöglich schon vorbei seien. Vielleicht nimmt da dieser Abend von Rio seinen Ursprung. Denn aus diesem furchtbaren Jahr kehrte Schweinsteiger erfolgreich wie nie zurück: Er führte die Bayern 2013 zum Champions-League-Sieg, gewann die Meisterschaft, den DFB-Pokal. Das Finale von Rio war nun nicht einfach nur eine Botschaft an die Zweifler, sondern ein Manifest in eigener Sache von Schweinsteiger, dem Ungetüm.
„Bastian ist ein Löwe. Das war das beeindruckendste Spiel, das ich je von ihm gesehen habe“, adelte Oliver Bierhoff den Münchner, als „überragend“ bezeichnete ihn Bundestrainer Joachim Löw. Nach dem Spiel wiederholte er Teile seiner Ansprache an die Mannschaft vor dem Finale. „Ihr müsst so viel geben, wie noch nie, wie noch nie, dann werdet ihr bekommen was ihr niemals hattet“, zitierte Löw sich selbst. Und Anführer Schweinsteiger hielt sich daran. Er warf alles in Waagschale, sogar seine körperliche Unversehrtheit. Er wurde in der Verlängerung an der Seitenlinie behandelt, Kevin Großkreutz stand kurz vor der Einwechslung, dann kam er doch noch zurück. Kein Spieler wurde an diesem Abend häufiger gefoult, kein Spieler hatte am Ende bessere Zweikampfwerte. Und das obwohl Schweinsteiger eine schwierige Saison mit zwei Sprunggelenks-Operationen hinter sich hatte und auch vor diesem Turnier von einer Knie-Verletzung gehandicapt wurde. Löw selbst hatte vermutet, dass sein Stratege 120 Minuten bei dieser WM wohl kaum durchstehen könne. Er hatte sich schwer getäuscht, welche Kräfte einer entwickeln kann, der weiß, dass dies seine letzte Chance auf den größten aller Titel sein könnte.
„Alles hat sich rentiert“, sagte Bastian Schweinsteiger zufrieden, als er – die Deutschland-Fahne um die Hüften gewickelt – das Maracana-Stadion verließ. Als Weltmeister. Und als der große Spieler, den nicht alle immer in ihm gesehen hatten.