Hannover. Dagur Sigurdsson führte Deutschlands Handballer zum EM-Titel und Olympia-Bronze. Nun kann er Deutschlands Olympia-Traum zerstören.

Sie waren so weit weg und doch so nahbar. Zumindest, wenn man nahbar als authentisch und sympathisch definiert. Mit den Bronzemedaillen um den Hals waren Deutschlands Handballer im August 2016 im Olympia-Studio des ZDF in Rio erschienen. Der Auftritt war kurz, doch es brauchte nur diese paar Minuten, um einen der schrägsten TV-Momente des Jahres zu schaffen. Silvio Heinevetter schob Hendrik Pekeler in einer Schubkarre vor die Kameras, Andreas Wolff lallte ohne Punkt und Komma eine Lobeshymne auf seine Kameraden und Tobias Reichmann versuchte sich mehrfach am Wort „Ambitionen“, bis er es schließlich dabei beließ, dass das deutsche Team ja mit großen „Ambinationen“ nach Brasilien gereist sei. Abseits des Geschehens blickte Dagur Sigurdsson amüsiert auf seine angeheiterte Mannschaft. Der Bundestrainer hatte in diesen Momenten das erfolgreichste Jahr der deutschen Handball-Geschichte vollendet. Europameister im Januar, Olympia-Dritter im August. Noch deutete nichts darauf hin, dass Sigurdssons Amtszeit wenig später nach nur 29 Monaten enden würde.

Nun also Hannover. Verregnet-grauer Himmel statt tropischer Temperaturen, doch Mitte März des Jahres 2024 geht es auch hier um Olympia und um Ambitionen. Die deutschen Handballer müssen beim Qualifikationsturnier in Niedersachsen mindestens Zweiter unter den vier Teilnehmern werden, um Ende Juli bei den Sommerspielen in Paris dabei zu sein. Im Weg stehen heute die Kroaten (14.30 Uhr/ZDF und Dyn). Seit wenigen Tagen trainiert vom Architekten des deutschen Superjahres 2016: Dagur Sigurdsson.

Deutsche Handballer: Bad Boys sind Vergangenheit

Dagur Sigurdsson bei seinem erfolgreichen Einstand als Nationaltrainer Kroatiens.
Dagur Sigurdsson bei seinem erfolgreichen Einstand als Nationaltrainer Kroatiens. © AFP | Ronny Hartmann

Der 50-jährige Isländer hatte sein Debüt am Donnerstag mit einem 35:29-Erfolg gegen Österreich beendet, den finalen Gegner der Deutschen am Sonntag (14.10 Uhr/ARD und Dyn). Kroatien hatte sich von der starken Anfangsphase der Österreicher nicht einschüchtern lassen und die Partie am Ende souverän zu Ende gebracht. Ähnlich also wie die deutsche Mannschaft sich zuvor gegen Algerien präsentiert hatte. Es war mit 41:29 am Ende eine eindeutige, zwischenzeitlich aber enge Partie, die bestätigte, was schon lange Fakt ist: Die deutschen Handballer sind nicht mehr die „Bad Boys“ von 2016.

Den Mythos der „Bösen Jungs“ hatte sich Sigurdsson einst zunutze gemacht. Angelehnt an den 80er-Jahre-Spitznamen der Basketballer der Detroit Pistons ließ er seine junge Mannschaft mit einer ähnlichen Attitüde auflaufen: grimmig, intensiv, körperbetont. Das Motto: Knüppelharte Defensive übertrumpft spielerische Finesse. Kreisläufer Jannik Kohlbacher, einer von drei derzeit im Nationalteam aktiven 2016er-Europameistern, sprach im Januar rückblickend süffisant von einer „Schlägertruppe“. Denn ja, Finn Lemke, Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold oder Martin Strobel zeigten sich in der Abwehr wenig zimperlich. Mit der Härte kam der Erfolg, mit dem Erfolg kam der Glaube an den EM-Triumph. Sigurdsson hatte mit einem notdürftig zusammengebastelten Kader schier Unmögliches erreicht – und wurde als Welttrainer des Jahres ausgezeichnet.

Deutschen Handballern fehlt die Kompromisslosigkeit

Die deutschen Handballer der Gegenwart sind weniger ruppig. Unter Trainer-Legende Alfred Gislason wird spielerisch ambitionierter und cleverer agiert, doch fehlt manchmal genau das, was die Bad Boys von 2016 auszeichnete – Kompromisslosigkeit. Gegen Algerien war die Defensive am Donnerstag häufig zu löchrig. Wie bei der EM im Januar auch, bei der es am Ende auch wegen zu vieler vergebener Torchancen auf der anderen Spielfeldseite nur zu Platz vier reichte. Das Spiel gegen Kroatien ist nun der Höhepunkt des Qualifikationsturniers, der Sieger hat sein Olympiaticket so gut wie sicher.

Alfred Gislason spielte die Bedeutung des „Sigurdssons-Faktors“ aber herunter, auf Psychospielchen wollte der 64-Jährige sich nicht einlassen. Das Duell gegen seinen isländischen Landsmann sei für ihn „nichts Besonderes“, schließlich seien beide schon als Vereinstrainer häufig aufeinandergetroffen – Gislason beim THW Kiel, Sigurdsson bei den Füchsen Berlin.

Sigurdssons Zeit in Deutschland endete damals nach der enttäuschenden WM 2017 vorzeitig. Nach einem rund siebenjährigen Abstecher zu Japans Nationalteam blieben ihm nun lediglich fünf Trainingseinheiten mit seiner neuen Mannschaft. Was konnte er in so kurzer Zeit bewirken? „Er kennt uns alle gut“, weiß Rune Dahmke, ebenfalls 2016er-Europameister. „Ich glaube, dass Dagur den Kroaten nochmal Auftrieb gibt. Die werden stark sein“.