Doha. Luka Modric will Kroatien zum zweiten Mal nacheinander ins WM-Finale führen. Woher nimmt der kleine Taktgeber seine Stärke?

Es kann auf den ersten Blick so aussehen, als sei Luka Modric selbst das Trikot zu schwer, so hager ist sein Körper. Klein und schmächtig wirkt er, nehmen ihn die Kollegen in den Arm, wie sie das derzeit bei all den Erfolgen häufig tun, dann verschwindet er fast. Wo nimmt dieser 1,72 Meter große Fußballer seine Stärke her?

Aus seinem Gefühl im rechten Außenrist, mit dem er Pässe malen kann. Aus seiner Vergangenheit, während des kroatischen Unabhängigkeitskrieges im September 1991 wurde seine Heimatgemeinde Jasenice von serbischen Streitkräften besetzt, sein Opa wurde ermordet. Luka Modric musste im Alter von sechs Jahren fliehen. Auf einem Parkplatz neben dem Flüchtlingslager feilte er an seiner Technik.

Nun geht es gegen Argentinien und Lionel Messi

An diesem Dienstag (20 Uhr/ARD und Magenta TV) kann dieser Mann, dessen Biografie mit „Sohn des Krieges“ betitelt wurde, mit Kroatien ein erneutes Kunststück vollbringen, im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2022 muss Argentinien mit seinem großen Star Lionel Messi (35) besiegt werden, um wie vier Jahre zuvor erneut das Finale zu erreichen. Die Augen werden vor allem auf Messi gerichtet sein, der seine Karriere in Katar vergolden möchte, dabei ist die Leistung des bereits 37-jährigen Modric ähnlich bemerkenswert.

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Es gibt zwei Faktoren, die dafür sorgen, dass der kroatische Kapitän nicht eine so außergewöhnliche Strahlkraft besitzt wie Messi, Cristiano Ronaldo (37) und Neymar (30), obwohl er selbst zu den besten und erfolgreichsten Fußballern der vergangenen Jahre zählt. Ihm fehlt einmal die Extravaganz. Keine Tattoos verzieren seinen Körper, kein Schmuck glänzt in seinem Gesicht, schon immer schiebt er seine langen Haare hinter die Ohren. Betrachtet man Bilder aus seinen ersten Profispielen, dann sind die Gesichtszüge etwas feiner, ansonsten hat er sich kaum verändert.

Luka Modric hat nichts Popstarhaftes wie Neymar und Ronaldo

Nun könnte man einwerfen, dass auch Messi, obwohl sich dieser mittlerweile viele Bilder auf seine Arme und Beine hat malen lassen, nichts Popstarhaftes an sich hat wie Ronaldo und Neymar. Dafür aber springt jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer die außergewöhnliche Begabung des Argentiniers durch Tore und Vorlagen ins Auge. Um die Extravaganz von Modric auf dem Platz zu erkennen, muss man genauer hinschauen. Wie ein Metronom bestimmt er den Takt des Spiels, mal entschleunigt er den Rhythmus, verlagert er die Seiten. Dann spielt er den Ball plötzlich, als würde ein Trommelwirbel einsetzen, mit seinem Außenrist direkt in die Spitze. Atemberaubend.

Kroatiens Luka Modric und Argentiniens Lionel Messi stehen sich am Dienstag im Halbfinale gegenüber.
Kroatiens Luka Modric und Argentiniens Lionel Messi stehen sich am Dienstag im Halbfinale gegenüber. © AFP

„Luka ist der Kopf des Sieges“, schwärmte Kroatiens Trainer Zlatko Dalic nach dem 4:2 im Elfmeterschießen gegen Brasilien im Viertelfinale. „Vor der WM hatten ihn einige abgeschrieben, aber er hat es allen gezeigt.“

Luka Modric hat mit Real Madrid fünfmal die Champions League gewonnen

37 Jahre alt ist Luka Modric bereits, seit 2012 steht er bei Real Madrid unter Vertrag, er hat im weißen Trikot fünfmal die Champions League gewonnen. Die Fans lieben den eleganten Taktgeber, der, das hat er in den vergangenen Tagen in Katar noch einmal bekräftigt, seine Karriere in Spaniens Hauptstadt beenden möchte. Wodurch der Frage nach einer Vertragsverlängerung eine zusätzliche Würze verliehen wird. Im Sommer 2023 endet der Kontrakt des Mittelfeldspielers, und wenn man seinen Worten Glauben schenken kann, dann hängt er entweder noch ein Jahr dran oder seine Fußballschuhe an den Nagel. „Das ist nicht das Thema, ich bin jetzt bei der Weltmeisterschaft und konzentriere mich darauf“, meinte Modric zuletzt in Katar.

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Noch kann er ja auch eine bemerkenswerte Reise weiter fortführen. Kroatien hat gerade einmal vier Millionen Einwohner, das ist fast so, als würde Berlin bei einer Weltmeisterschaft antreten. Trotzdem schaffte das Land schon 2018 in Russland sensationell den Sprung ins WM-Finale, scheiterte erst dann mit 2:4 gegen Frankreich. Jetzt kann der Einzug ins Endspiel schon wieder gelingen. Kroatien sei „Stolz, Mut, Glaube und Patriotismus“, meinte Trainer Dalic. Wobei dies auch schon dazu geführt hat, dass die Spieler in der Kabine nationalistische Lieder gesungen haben.

Korruptionsprobleme im kroatischen Fußball

Der kleine Staat knabbert an wirtschaftlichen Problemen, an Korruption, an Skandalen, die auch den Fußball erschüttert haben. Der sogenannte „Fußball-Pate“ Zdravko Mamic wurde 2018 zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt, er soll mehr als 15 Millionen Euro bei Spielertransfers unterschlagen und rund 1,6 Millionen Euro an Steuern hinterzogen zu haben. Luka Modric ist in diesen Fall verwickelt, Mamic soll bei dessen Transfer 2008 von Dynamo Zagreb zu Tottenham Hotspur mitverdient haben. Modric musste im Prozess aussagen und vermied es, Mamic zu belasten. Die Staatsanwaltschaft warf ihm deswegen Meineid vor, zu einer Verurteilung kam es nicht.

Der Sport bietet vielen Kroaten und Kroatinnen die einzige Perspektive, den prekären Verhältnissen zu entkommen. Die großen Klubs Dinamo Zagreb und Hajduk Split fangen die Talente auf, bilden sie aus und verkaufen sie weiter. Das Geld wird wieder in die Jugendarbeit gesteckt. Josko Gvardiol (20/RB Leipzig), Dejan Lovren (33/Zenit St. Petersburg) und Mateo Kovacic (28/FC Chelsea), drei Stützen der kroatischen Nationalmannschaft, wurden bei Dinamo Zagreb ausgebildet. Genauso wie Luka Modric. Sie alle eint ein bemerkenswerter Wille, ein großes Selbstbewusstsein. Bei der WM 2018 siegte Kroatien zweimal im Elfmeterschießen, diesmal hat sich Dalics Auswahl schon wieder zweimal beim Nervenduell vom Punkt durchgesetzt.

Luka Modric gewann 2018 den Ballon d'Or

Was dabei in der öffentlichen Wahrnehmung untergeht, ist die Ballsicherheit im Mittelfeld, durch die Kroatien fast jede Attacke des Gegners auffangen und umspielen kann. Marcelo Brozovic (30/Inter Mailand), Kovacic und natürlich Modric saugen die Bälle mit ihren Füßen an und verteilen sie seelenruhig weiter, gegen Brasilien verschaffte dies der Mannschaft immer wieder Ruhephasen.

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Nach dem Final-Einzug 2018 durchbrach Luka Modric die Dominanz von Lionel Messi und Cristiano Ronaldo bei den Bestenwahlen. Der „Sohn des Krieges“ wurde vom Parkplatz-Spieler zum Weltfußballer, erhielt den Ballon d’Or. Zur Verleihung reisten Messi und Ronaldo erst gar nicht an, was Modric anschließend als respektlos bezeichnete. An diesem Dienstag kann er es Messi heimzahlen.