Al-Rajjan. Die Sensation ist perfekt: Brasilien scheitert im WM-Viertelfinale im Elfmeterschießen an Kroatien. Neymar versinkt in Tränen.

Hinterher konnten die Kroaten ihr Glück kaum fassen. Im Vollsprint rannten viele von ihnen im Moment der großen Freude über den Rasen, später genoss Luka Modric zahlreiche Umarmungen, ebenso Trainer Zlatko Dalic und der nervenstarke Torhüter Dominik Livakovic. Und während sie sich auf dem Rasen alle zum großen Sieger-Gruppenbild aufstellten und ihren unerwarteten Einzug ins Halbfinale der Weltmeisterschaft in Katar bejubelten, vergossen die Brasilianer auf der anderen Seite des Platzes Tränen. Ihr Superstar Neymar sackte fassungslos und mit leerem Blick auf dem Rasen zusammen, eher er gemeinsam mit Mitspielern und Fans hemmungslos weinte.

Neymar zieht mit Pelé gleich

Es war der größtmögliche Kontrast an einem Freitagabend, der mit einer Pointe am Pfosten und dem Platzen aller Titelträume des Topfavoriten geendet war. Brasilien steht unter Schock.

Nach Elfmeterschießen hatte die Mannschaft von Trainer Tite mit 3:5 gegen Kroatien verloren. Nach regulärer Spielzeit hatte es 0:0 gestanden, ehe Neymar Brasilien in der Verlängerung nach einem doppelten Doppelpass mit Rodrygo und Lucas Paquetá in Führung brachte (105.+1). Es war sein 77. Tor für die Seleção gewesen, womit er mit dem dreimaligen Weltmeister und bisher alleinigem Rekordtorschützen Pelé zumindest nach Treffern gleichzog. Doch nach Titeln droht der 30 Jahre alte Neymar in der brasilianischen Auswahl unvollendet zu bleiben, zumal er bereits gesagt hatte, in Katar wohl seine letzte WM zu spielen.

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Seit 20 Jahren wartet Brasilien schon auf den sechsten WM-Titel – mit einem Team aus exzellenten Fußballern sollte es nun endlich klappen. Das Scheitern zu verkraften, sei „wahnsinnig schwer“, sagte Kapitän Thiago Silva: „Man hat keine Worte. Das tut sehr weh. Ich hätte gern den Pokal in die Höhe gehalten.“ Er ist bereits 38 Jahre alt, es war seine letzte WM. Der Innenverteidiger bleibt ohne Krönung in der Seleção. Neymar auch, sofern er es sich nicht noch mal anders überlegt.

Kroatien-Torwart Livakovic: „Sind als Kämpfer aufgewachsen“

Das überraschende Aus lag vor allem daran, dass Kroatiens eingewechseltem Stürmer Bruno Petkovic in der Verlängerung mit einem abgefälschten Linksschuss noch der glückliche Ausgleich gelungen war. Im Elfmeterschießen parierte Kroatiens überragender Torwart Livakovic, der wie schon im Achtelfinale gegen Japan zum Retter für sein Team avancierte, zunächst Brasiliens ersten und schwachen Versuch von Rodrygo, der halbhoch und unplatziert geschossen hatte. Später traf Marquinhos beim vierten Elfmeter Brasiliens nur den Pfosten. Perfekt war die Pointe, nachdem die Kroaten ihre vier Elfmeter sicher verwandelt hatten.

Die Kroaten bejubeln den Einzug ins WM-Halbfinale.
Die Kroaten bejubeln den Einzug ins WM-Halbfinale. © AFP | AFP

„Wir haben einen sehr starken Charakter und geben nicht auf“, sagte Dalic. Schon 2018, als Kroatien überraschend ins WM-Finale kam und Frankreich unterlag, hatte das Team das Achtel- und das Viertelfinale erst beim Duell vom Punkt überstanden. „Wir sind als Kämpfer aufgewachsen, wir haben unser ganzes Herz gegeben“, ergänzte Livakovic, nachdem er als Spieler des Spiels ausgezeichnet worden war. Während für die Seleção bei vier der vergangenen fünf Weltmeisterschaften in dieser Runde Schluss war, dürfen die im bisherigen Turnier so harmlosen Kroaten von einer Wiederholung von 2018 träumen. „Das ist unser zweites WM-Halbfinale in Serie, und wir sind ein kleines Land. Ich bin begeistert, wie sie gespielt haben“, sagte Dalic gerührt.

Vorangegangen war ein Viertelfinale, in dem sich beide Mannschaften zunächst weitgehend neutralisierten. Die Brasilianer waren mit derselben Startelf angetreten wie beim 4:1 gegen Südkorea. Doch von jener Leichtigkeit, die sie im Achtelfinale gezeigt hatten, waren sie weit entfernt. Kroatiens Taktik wurde immer klarer, je länger das Spiel dauerte: hinten möglichst gar nichts zulassen und vorne durch Konter gefährlich werden. Die Ausgeglichenheit in der ersten Halbzeit war auch ein Verdienst von Modric. Er war mal wieder Kroatiens Dreh- und Angelpunkt, und mit seiner Ballsicherheit, Ruhe und Spielintelligenz sorgte der 37-Jährige von Real Madrid dafür, dass sich die Ballbesitzphasen die Waage hielten.

Livakovic gegen Brasilien

Das änderte sich in der zweiten Halbzeit. Nun dominierte Brasilien, griff an und kam zu mehreren guten Chancen. Doch immer wieder rettete Livakovic, der 27 Jahre alte Torwart von Dinamo Zagreb, darunter gegen die freistehenden Neymar (55.) und Paquetá (66.). Das Spiel hätte man später in Brasilien gegen Livakovic umbenennen können. Einmal abgesehen von jenem Dribbling und Querpass, mit dem Ivan Perisic in der Verlängerung für Gefahr sorgte, ehe Petkovic den Abschluss verzog.

Am Boden: die Brasilianer Neymar und Rodrygo nach dem Aus im WM-Viertelfinale.
Am Boden: die Brasilianer Neymar und Rodrygo nach dem Aus im WM-Viertelfinale. © AFP | AFP

Aber dann kam Neymar mit seinem 77. Tor für die Seleção nach einer feinen Kombination. Es schien die einzige Pointe des Abends zu sein, ganz im Sinne der Brasilianer. Doch es folgte noch der überraschende Ausgleich durch Petkovic, Marquinhos fälschte ab. Im Elfmeterschießen traf Brasiliens Innenverteidiger nur den Pfosten. Es war die finale Pointe. Kroatien jubelte, Brasilien weinte.