Hamburg/Essen. Nach dem WM-Aus waren mit Bierhoff und Flick die Schuldigen gefunden. Dass sich aber wichtige Spieler überwarfen, kommt nun erst raus.

Die Zukunft des deutschen Fußballs beginnt mit der Vergangenheit. Am Mittwoch empfangen DFB-Präsident Bernd Neuendorf und sein Vize Hans-Joachim Watzke in Frankfurt zum Gespräch, dann wollten sie von DFB-Manager Oliver Bierhoff und Bundestrainer Hansi Flick eine überzeugende Analyse hören. Fußball-Deutschland sucht nach Sündenböcken. Der erste scheint gefunden zu sein. Am Montagabend gab der DFB die Trennung von Oliver Bierhoff bekannt. Ein echter Paukenschlag.

„Oliver Bierhoff hat sich große Verdienste um den DFB erworben. Auch wenn die letzten Turniere hinter den sportlichen Zielen zurückblieben, steht er für große Momente. Sein Wirken wird für immer mit dem WM-Erfolg in Brasilien verbunden bleiben“, sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf, der Bierhoff „im Namen der DFB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter für alles, was er für uns und den Fußball in Deutschland geleistet hat“, dankte.

Nationalmannschaft: Spieler beschuldigen sich gegenseitig

Den Sündenbock beim DFB suchte zuletzt nicht nur die Öffentlichkeit: Nach Informationen dieser Redaktion hat auch innerhalb der Nationalmannschaft längst die Suche nach dem oder den Schuldigen begonnen. Und diese Suche gibt einen verstörenden Blick ins Binnenverhältnis des DFB-Teams preis. Spieler beschuldigen sich gegenseitig, Spindoktoren versuchen die Deutungshoheit zu gewinnen. Und über all dem schwebt die Frage, was im Mannschaftsquartier Zulal Resort vor dem entscheidenden Auftaktspiel gegen Japan tatsächlich passierte.

Die Kurzform der Antwort geht so: In einer Sitzung des Mannschaftsrats mit Manuel Neuer, Thomas Müller, Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Antonio Rüdiger und Ilkay Gündogan krachte es am Vortag des Spiels gewaltig. Wieso, weshalb, warum? Dafür braucht man die Langform der Antwort. Und die geht so: Bereits am frühen Montag, kurz vor Englands Auftaktspiel gegen den Iran und zwei Tage vor der deutschen Partie gegen Japan, hatte die Fifa dem englischen Verband gegenüber „ernsthafte Konsequenzen“ für das Tragen der „One Love“-Binde ausgesprochen. Nach eiligen Beratungen mit den Verantwortlichen der anderen europäischen Verbände entschieden die Engländer, auf die Binde zu verzichten. Auch DFB-Präsident Neuendorf, der sich zuvor mit Bierhoff, Flick und Kapitän Neuer abgestimmt hatte, stand hinter dieser Entscheidung.

podcast-image

Was nun passierte, darüber sind sich die Protagonisten nicht einig. Unstrittig ist nur, dass sich am Vortag des Japan-Spiels der Mannschaftsrat des DFB-Teams zusammensetzte, um darüber zu sprechen, ob dennoch ein Zeichen setzen könne. Kapitän Neuer und Goretzka wollten unbedingt ein starkes Symbol, sie standen ja auch persönlich am meisten unter Druck: Neuer hatte angekündigt, die Binde in jedem Fall zu tragen, Goretzka starke Gesten versprochen.

Er schlug nun vor, dass alle beim Mannschaftsfoto ein Herz mit ihren Händen formen. Es wäre das gleiche Zeichen gewesen, das er bereits bei der EM vor einem Jahr im Spiel gegen Ungarn als Symbol gegen Homophobie beim Torjubel benutzte. Thomas Müller und Joshua Kimmich sollen unsicher, Antonio Rüdiger und Ilkay Gündogan dagegen gewesen sein. Warum? Weil die beiden Muslime durch diese Geste den katarischen Gastgeber nicht angreifen wollten, sagen die einen. Weil die Geste eben nicht neu, sondern durch Goretzka ein Jahr zuvor schon benutzt worden sei, sagen die anderen. Schließlich einigte man sich doch noch: die Mund-zu-Geste, mit der man nicht Katar, sondern die Fifa kritisieren wollte.

Es gab keine Abstimmung, keine Mehrheitsentscheidung, am Ende trugen alle sechs Mitglieder des Mannschaftsrats die Entscheidung mit. Das Ergebnis wurde schließlich der ganzen Mannschaft überbracht, das Echo soll geteilt gewesen sein. Doch am Ende setzten sich Neuer, Goretzka und Co. durch: Vor dem Japan-Spiel hielten sich alle Spieler den Mund zu, das Mannschaftsfoto ging um die Welt. Die Folge: Außerhalb Katars und der arabischen Welt wurde die Haltung und die Symbolik der Deutschen bejubelt, in Deutschland selbst gab es dagegen Beifall und Kritik. Hauptkritiker: Die Meinungsmacher der „Bild“-Zeitung. Die titelte: „Mund zu statt Mund auf – das ist zu wenig!“

Protest vor dem WM-Spiel gegen Japan: Deutschlands Spieler halten sich den Mund zu.
Protest vor dem WM-Spiel gegen Japan: Deutschlands Spieler halten sich den Mund zu. © firo

Zwei Wochen und ein blamables Vorrundenaus später sehen das plötzlich viele anders und glauben sogar, dass das Mund-zu-Foto zu viel war. Zwei Tage nach der Rückreise nach Deutschland machten am Sonntagabend die ersten Berichte die Runde, dass die Nationalspieler weder die „One Love“-Diskussion noch das Mund-zu-Foto gewollt hätten. Im Hintergrund versuchen dabei auch Medienberater, Agenten und Spindoktoren alles, um ihre Klienten in ein besseres Licht zu stellen.

Neuer setzt neben Agent Thomas Kroth auch auf Medienberater Bernhard Schmittenbecher, Joshua Kimmich vertraut Dany Biegler. Gündogan und Rüdiger lassen sich von „We play forward“, einer Münchner Agentur für Vermarktung im Sport, Social Media und PR, ins rechte Licht rücken. Und Leon Goretzka setzt auf die Dienste von „BrinkertLück Creatives“, die auch die Leadagentur des Nationalteams ist.

Auch interessant

An dieser Stelle wird es spannend. Denn nach Informationen dieser Redaktion hatte die Hamburger Kommunikationsagentur „BrinkertLück Creatives“, die auch die erfolgreiche Wahlkampagne für den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz ausarbeitete, dem DFB schon vor mehr als einem halben Jahr ein fertiges Konzept in Bezug auf einen ganzheitlichen und überzeugenden Umgang mit Katar vorgelegt. Die Idee: Man wollte eine nachvollziehbare Haltung der Nationalmannschaft, gegen Diskriminierung, für Vielfalt und Menschenrechte, schon lange vor dem Turnier kommunikativ transportieren. Doch nach der europäischen Entscheidung für die „One Love“-Binde verschwanden die Pläne wieder in der Schublade.

Weitere WM-News finden Sie hier

Und als die Fifa die europäischen Verbände zu Beginn der WM mit dem Last-Minute-Veto und unkonkret benannten Drohungen ausspielte, war es zu spät – für eine überzeugende Sensibilisierung der Öffentlichkeit und vor allem für die notwendige Akzeptanz innerhalb der Nationalmannschaft.

DFB-Führung bei Analyse nicht zu beneiden

Das Ende vom Lied: Noch bevor der erste Ball rollte, überwarfen sich Deutschlands Führungsspieler, deren Medienberater nun im Nachhinein versuchen, ihre Klienten ins beste Licht zu rücken. Die große Frage bleibt aber: Wie soll man auf dieser Vergangenheit nun eine tragfähige Zukunft aufbauen?