Al Ruwais. Leon Goretzka trifft mit Deutschland am Mittwoch bei der WM auf Japan. Vor dem Auftakt spricht der Bayern-Star im exklusiven Interview.
In kurzer Hose und kurzärmligen Trainingsshirt betritt Leon Goretzka (27) den Konferenzraum am Trainingsgelände der deutschen Nationalmannschaft in Al Ruwais, die Baseballkappe sitzt verkehrtherum auf dem Kopf. Die Kleidung ist den Temperaturen angemessen, zumindest außen. Den Konferenzraum hat die Klimaanlage erbarmungslos auf 19,5 Grad heruntergekühlt, die Reporter haben sie kurz vor dem Gespräch abgeschaltet. „Danke dafür“, sagt 27-Jährige und lässt sich in einen der 18 Leder-Drehstühle fallen, die den schweren Holztisch umringen. Der Raum sieht aus, als könnten hier sonst politische Sitzungen stattfinden. Und das passt zu dem Gespräch mit einem der politischsten Köpfe in der Nationalmannschaft über die Fifa, ihren umstrittenen Präsidenten Gianni Infantino, die Debatte um die One-Love-Kapitänsbinde – aber auch die sportliche Lage vor dem Auftaktspiel heute gegen Japan. Um 14 Uhr steigt Deutschland in die WM ein.
Herr Goretzka, endlich geht es los. Haben Sie sich schon überlegt, wie Sie jubeln, wenn Sie im Auftaktspiel in Doha gegen Japan ein Tor erzielen?
Leon Goretzka: Ehrlicherweise noch nicht.
Bei der EM vor anderthalb Jahren gehörte das Foto Ihres Herz-Jubels gegen Ungarn zu den eindrucksvollsten Bildern der EM. Braucht man bei dieser WM in Katar derartige Symbolik ganz besonders?
Symbolbilder sind bei dieser WM sicherlich noch wichtiger als bei der vergangenen EM. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir diese Zeichen hier in Katar sehen werden.
Ein Zeichen sollte auch Manuel Neuers „One Love“-Binde werden, die auch andere Kapitäne europäischer Nationen als Zeichen für Menschenrechte tragen wollten …
Wir als Mannschaft begrüßen jedes Zeichen für Vielfalt und gegen Diskriminierung. Dass die Fifa nun viele Wochen nach Kenntnis der Gemeinschaftsaktion Strafen für das Tragen androht, ist nicht nachzuvollziehen. Es ist aber auch klar, dass diese Aktion nicht auf dem Rücken und zu Lasten von Manuel Neuer und der weiteren Kapitäne ausgetragen werden kann, wie es der DFB zu Recht sagt.
Die Fifa hat am Wochenende kurzfristig eine eigene Symbolik mit Slogans wie „Save the Planet“ oder „Be active“ erfunden. Wird hier ein grundsätzlicher Konflikt sichtbar? Die Fifa, deren Präsident Gianni Infantino und der Ausrichter Katar auf der einen und Verbände aus Europa wie der DFB auf der anderen Seite?
Die Pressekonferenz von Gianni Infantino hat uns alle irritiert. Es war mehr als erstaunlich, was da passiert ist und was dort wie gesagt wurde.
Unter anderem sagte Infantino, wir Europäer müssten uns erst einmal in den nächsten 3000 Jahren für das entschuldigen, was wir in den vergangenen 3000 Jahren weltweit verursacht haben.
Um sein Wording aufzugreifen: Man kann nur hoffen, dass die Fifa jetzt nicht auch 3000 Jahre braucht, um sich effektiv für Menschenrechte einzusetzen.
Fürchten Sie einen Graben zwischen den Lagern?
Wir wollen keine Gräben, sondern Brücken bauen. Das ist auch die Intention hinter unseren DFB-Aktionen hier in Katar wie dem gemeinsamen Training mit jungen Frauen und Mädchen. Am stärksten sind natürlich gemeinsame Aktionen. Symbole wie unsere Kapitänsbinde sollten genau diese Zeichen setzen und zum Dialog beitragen.
Fifa-Präsident Infantino bezeichnete die Kritik aus West-Europa als „Heuchelei“…
Die Diskussion über die Einhaltung der Menschenrechte ist hoffentlich keine westeuropäische Perspektive, sondern eine globale.
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Ist die Messlatte zu hoch, die wir in Deutschland anlegen?
Wir nehmen die Menschenrechtssituation in Deutschland als Selbstverständlichkeit hin, was sie leider nicht ist. Umso wichtiger ist es, die universell geltenden Menschenrechte auch in Länder zu exportieren, in denen das nicht der Fall ist.
Verstehen Sie Aufrufe zum WM-Boykott?
Menschenrechtsorganisationen haben uns in den vergangenen Monaten in unserer Haltung bekräftigt: ein Boykott bringt nichts voran. Ein Austausch dagegen bietet die Chance auf Fortschritt. Wandel durch Annäherung, heißt es nicht umsonst.
Seit Monaten wird besonders in Deutschland über Frauenrechte und die Situation von Arbeitsmigranten und Homosexuellen in Katar diskutiert. Infantino sagte jetzt, dass auch er wisse, wie es sich anfühle, diskriminiert zu werden. Er sei als Kind in der Schule wegen seiner roten Haare gemobbt worden. Was denkt man als Spieler, wenn man so einen Satz liest?
Man hat leider nicht das Gefühl, dass Herr Infantino verstanden hat, worum es bei der ganzen Diskussion überhaupt geht. Und das ist sehr schade.
Das Lifestylemagazin „GQ“ erklärte sie im vergangenen Jahr zum „politischsten Akteur der DFB-Auswahl“. Freuen Sie sich über solche Beschreibungen?
Ich bin Fußballer, kein Politiker. Aber ich bin schon politisch interessiert. Und ich bin vor allem daran interessiert, dass sich Dinge zum Positiven wandeln. Ich habe ein sensibles Radar dafür, wenn es nicht fair zugeht. Dann versuche ich, meine Reichweite als Fußballer auch für wichtige Themen zu nutzen.
Leon Goretzka: "Ich bin Fußballer, kein Politiker"
Fühlen Sie den Druck, dass Sie als sozial engagierter Mensch nicht nur als Fußballer gefragt sind?
Ich empfinde es nicht als Druck, sondern als Selbstverständlichkeit. Ich agiere ja bewusst so. Und solange ich das Gefühl habe, dass ich zum Fortschritt beitragen kann, mache ich das total gerne. Ich kann aber auch jeden Fußballer gut verstehen, der sich in diesem politischen Bereich lieber gar nicht äußern will. Es ist ein schwieriges Terrain. Jedes Wort, jede Formulierung wird ganz genau registriert. Die Gefahr, einen Fehler zu machen, ist riesengroß.
Bei der WM geht es bei nahezu jeder Pressekonferenz nicht nur um Fußball. Wie bereitet man sich auf all die anderen Thematiken vor?
Es ist, denke ich, ganz normal, dass man sich vor einer Pressekonferenz oder einem Interview Gedanken darüber macht, was für Themen oder Fragen kommen könnten. Generell lese ich gerne und tausche mich mit Freunden und der Familie auch über Themen aus, die wenig mit Fußball zu tun haben.
Bei der WM ist Ihr direkter Vorgesetzter Hansi Flick, der die schwierige Aufgabe hat, Sie und Ihre Kollegen bestmöglich auf das Auftaktspiel gegen Japan vorzubereiten, obwohl die Politik den Sport so sehr überlagert. Wie macht er das?
Er sorgt dafür, dass wir uns bestmöglich auf den Sport fokussieren können. Das ist ja auch seine Aufgabe als Bundestrainer. Er bereitet uns extrem akribisch auf diese WM vor. So kenne und schätze ich ihn als Trainer schon aus unserer gemeinsamen Zeit bei Bayern München.
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Bernd Neuendorf hat gesagt, dass Deutschland „sicherlich gegen Japan gewinnen“ werde. Dem Präsidenten widerspricht man nicht, oder?
Dem DFB-Präsident sollte man nicht widersprechen (schmunzelt). Natürlich werden wir alles daran setzen, unser erstes Spiel zu gewinnen.
Das Spiel findet nachmittags bei rund 30 Grad statt. Ist das der Rede wert?
Nicht wirklich. Da gibt es interessantere Themen bei dieser WM.
DFB-Manager Oliver Bierhoff hat die Spieler aber aufgefordert, möglichst viel Zeit draußen zu verbringen, um sich besser an diese Temperaturen zu gewöhnen…
Da hat er natürlich recht. Es ist wichtig, sich bestmöglich zu akklimatisieren, weil wir dafür bei diesem Turnier so wenig Zeit haben wie noch nie.
Spielen Sie gerne in der Hitze?
Nein, ich bin eher der Nieselregentyp. Aber Hitze ist ja relativ. Auch ein Spiel bei rund 30 Grad werden wir alle sehr gut hinbekommen.
Was erwarten Sie sportlich von sich persönlich?
Wir alle haben nicht nur Mannschaftsziele, sondern auch ganz persönliche. Ich halte es auch für wichtig, dass die jeder Einzelne hat. Nur verraten werde ich sie nicht.
Warum nicht?
Ich mache mir selbst den meisten Druck, so dass ich keinen Mehrwert darin sehe, meine persönlichen Ziele mit der Welt zu teilen. Klar ist, dass ich eine andere Rolle als bei der EM im vergangenen Jahr anstrebe. Da kam ich aus einer langen Verletzung. Jetzt bin ich fit, ich möchte Verantwortung übernehmen. Das entspricht auch meinem Naturell. Dieses persönliche Ziel habe ich übrigens schon bei meiner ersten Pressekonferenz beim FC Bayern geteilt. Da wurde ich ein wenig belächelt. Dieses Ziel habe ich bei den Bayern aber sehr gut erreicht, finde ich.
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Was muss an diesem Mittwoch im Khalifa-Stadion passieren, damit es für Deutschland ein gutes Turnier wird?
Wir müssen als Team zusammenwachsen und gut ins Turnier starten. Ganz, ganz wichtig ist es, Klarheit und Selbstvertrauen zu haben. Wir brauchen den unbedingten Glauben an uns, um mit breiter Brust in das Auftaktspiel zu gehen.
Ist für Sie wichtig, dass auch Deutschland so richtig in WM-Stimmung kommt?
Unsere Herausforderung wird es sein, mit unserer Art Fußball eine gewisse Begeisterung zu entfachen. Hier und auch in der Heimat. Wir wollen uns nicht verbiegen lassen und gleichzeitig den maximalen sportlichen Erfolg haben.
In Ihrer Heimat im Ruhrpott gehört Bier zum Fußball dazu, hier in Katar ist das anders. Wie sehen Sie das Bierverbot, dass Katar nun kurz vor dem Eröffnungsspiel ausgesprochen hatte?
Für mich ist es vor allem nicht nachvollziehbar, dass man diese Entscheidung so kurz vor der WM getroffen hat. Hier werden Versprechen an die Fans nicht eingehalten. Noch weniger nachvollziehbar ist, dass es dann ja doch bestimmte Bereiche im Stadion gibt, in denen es doch erlaubt sein wird…
…im VVIP-Bereich, also in dem Bereich für die very, very important persons…
Das versteht niemand.
Gibt es bei einem Erfolg gegen Japan zumindest ein Siegerbierchen im Hotel?
Fakt ist, dass wir alle körperlich extrem gefordert sind und sehr auf unsere Regeneration achten müssen. Ein Bier nach dem Spiel würde da nicht unbedingt helfen. Das klingt nicht wirklich nach Fußball-Romantik – ist aber so.