Al Ruwais. Nachdem die Fifa den Druck erhöhte, verzichten europäische Verbände auf die One-Love-Kapitänsbinde. Das sind die Hintergründe.

Mit ernstem Blick schritten Bernd Neuendorf und Oliver Bierhoff über den Rasen des Al Shamal Sports Club in Al Ruwais. Dieser Termin am Trainingsplatz der deutschen Nationalmannschaft machte ihnen erkennbar wenig Freude. DFB-Präsident Neuendorf, der geübte Redner, hatte sogar einen Sprechzettel vorbereitet. Es ging um ein heikles Thema, da mussten zumindest die einleitenden Sätze genau sitzen. Und diese Sätze hatten es in sich: „Die Fifa hat heute eine Aussage für Diversität und Menschenrechte untersagt“, meinte Neuendorf. „Das sind Werte, zu denen sie sich in ihren eigenen Statuten verpflichtet. Aus unserer Sicht ist das mehr als frustrierend und ein beispielloser Vorgang in der WM-Geschichte.“

Der Konflikt zwischen dem Weltverband auf der einen und dem Deutschen Fußballbund und weiteren europäischen Verbänden auf der anderen Seite, er hatte am Montag eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Und alles wegen eines scheinbar harmlosen Stück Stoffs mit der scheinbar harmlosen Botschaft „One Love“.

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Das hätte auf der Kapitänsbinde stehen sollen, die die deutsche Mannschaft, aber auch England, Wales, die Niederlande, die Schweiz, Belgien und Dänemark tragen wollten, schon im September war das beantragt. Aber eine Antwort der Fifa erhielten sie nicht, monatelang wurden sie hingehalten. Erst am Montag, ganz kurz vorm Auftaktspiel der Engländer, teilte Fifa-Generalsekretärin Fatma Samoura den beteiligten Verbänden mit, dass die Binde unerwünscht sei. Zudem drohte sie explizit mit sportlichen Sanktionen – blieb aber auch dabei wieder vage. „Wir haben bis heute keinerlei konkrete Hinweise, wie Sanktionen aussehen könnten, auch das ist befremdlich“, haderte Neuendorf.

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Beim DFB und den übrigen Europäern fasste man das als Kriegserklärung auf, da nun absolut keine Zeit mehr war zu reagieren und unter höchstem Zeitdruck die Entscheidung fallen musste: eine sportliche Sanktionierung in Kauf nehmen oder das Risiko vermeiden. In einer gemeinsamen Sitzung fiel dann die Entscheidung – gegen die Binde. „Wir wären bereit gewesen, Strafen zu zahlen, was normalerweise bei Verstößen gegen Kleider-Regularien der Fall wäre“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. „Dennoch konnten wir unsere Spieler nicht in eine Situation bringen, in der sie eine Gelbe Karte bekommen könnten oder gar gezwungen werden, das Spielfeld zu verlassen.“ Und der niederländische Verband ergänzte: „Dass die Fifa uns auf dem Platz bestrafen will, ist einmalig und geht gegen den Geist des Sports, der Millionen verbindet. „Wir stehen zur ‚One Love‘-Botschaft und werden diese weiter verbreiten, aber unsere oberste Priorität ist es, Spiele zu gewinnen. Da möchte man nicht, dass der Kapitän das Spiel mit einer Gelben Karte beginnt.“ Zumal das bei den Niederländern Innenverteidiger Virgil van Dijk beträfe – der ein deutlich höheres Risiko hätte, Gelb-Rot zu sehen als Deutschlands Kapitän Manuel Neuer.

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Gelbe Karten, Platzverweise, Punktabzüge – all das stand im Raum. Einen schriftlichen Bescheid der Fifa, wie ihn die Regularien eigentlich vorsehen, gibt es nach Informationen dieser Redaktion nie. Und deswegen entschieden die beteiligten Verbände, das Risiko nicht einzugehen. „Wir wollten die Spieler nicht dieser Situation aussetzen“, erklärte Neuendorf, der von einer „Machtdemonstration der Fifa“ sprach.

DFB-Präsident Neuendorf sieht kein Einknicken des DFB

Eine Machdemonstration, vor der man nun einknickte? Nein, findet Neuendorf und verwies darauf, dass der deutsche Verband dem Fifa-Präsidenten Gianni Infantino für die anstehende Wiederwahl öffentlich die Gefolgschaft verweigerte. „Das war doch deutliches Signal an die Fifa, dass wir nicht bereit sind, bestimmte Dinge mittragen“, sagte Neuendorf. „Da haben wir uns als einer der wenigen Verbände klar positioniert.“ Die Positionierung auf dem Platz aber bleibt aus – und das habe auch Kapitän Manuel Neuer enttäuscht, berichtete Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft: „Bei uns herrscht große Verärgerung, das fühlt sich stark nach Zensur an.“

Hinter den Kulissen fielen noch deutlichere Worte, ein ranghoher DFB-Vertreter fühlte sich im Gespräch mit dieser Redaktion an „Game of Thrones“ erinnert, die TV-Serie voller politischer Ränkeschmiede, Intrigen und sehr viel Blut. Erst ließ die Fifa die Verbände monatelang zappeln – dann die Entscheidung gegen die Binde, kurz bevor die Engländer auf den Rasen gehen sollten. „Ganz bewusst kam das kurzfristig am Spieltag, um eine Drucksituation aufzubauen“, schimpfte Bierhoff.

Infantino präsentiert sich gegenüber Katar erstaunlich willfährig

Dabei, darauf wies man beim DFB hin, hatte Neuer die One-Love-Binde ja schon beim Freundschaftsspiel im Oman getragen, was offiziell ein Fifaspiel war – Reaktionen oder gar Sanktionen hatte es da nicht gegeben. Nun aber ist man in Katar, und dem Gastgeberland gegenüber präsentiert sich die Fifa mit ihrem Präsidenten Infantino bislang als erstaunlich willfährig. Katar will entgegen aller Absprachen in letzter Sekunde doch kein Bier rund um die Stadien? Es gibt kein Bier. Aussagen pro Diversität könnten Katar missfallen? Also erklärt die sie Fifa zu politischen Botschaften, die das Regelwerk untersagt. Zum Unverständnis der Deutschen: „Wir sehen beim Eintreten für Menschenrechte und Diversität keine politische Aussage, das ist ein Grundrecht“, meinte Bierhoff. Doch die Fifa-Generalsekretärin Samoura wollte die Haltung des Weltverbands gar nicht groß begründen. „Die Fifa setzt die Regeln, Punkt – das war die Aussage“, sagte der frustrierte Neuendorf.

Dabei hatte Fifa-Präsident Infantino, der Mann mit dem Zweitwohnsitz im WM-Gastgeberland, noch am Samstag in großen Worten die Vielfalt proklamiert: „Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert. Heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant.“ Schon am Montag aber waren die Gefühle nicht mehr stark genug, um eine Kapitänsbinde zu tolerieren, die für Vielfalt stehen sollte.

DFB will die eigenen Werte dennoch zum Ausdruck bringen

Tatsächlich hatte Infantino am Samstag auch die erste Eskalationsstufe zünden lassen. Aus heiterem Himmel brachte die Fifa eigene Kapitänsbindenbotschaften ins Spiel, mit mehr oder weniger wolkigen Slogans wie „Football unites the world“ (Fußball vereint die Welt) oder „Be active“ (sei aktiv). Schon das fasste man nicht nur im deutschen Lager als klare Aktion gegen die eigene Binde auf. Und dann hatte Infantino die Europäer sehr direkt angegriffen: „Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3.000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3.000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen“, sagte er.

So lange aber will man beim DFB nicht warten: „Man kann uns die Binde nehmen, aber die Werte, die wir haben, werden wir immer wieder zum Ausdruck bringen“, sagte Bierhoff. Wie genau das aussehen kann, wissen die Deutschen aber selbst noch nicht. „Auf dem Platz gibt es klare Regularien“, sagte Bierhoff. „Aber was in der Freizeit passiert, bleibt ja wohl uns überlassen.“