Eugene. Beim 200-Meter-Finale der Leichtathletik-WM in Eugene dominieren die Amerikaner, Titelverteidiger Noah Lyles rennt eine Fabelzeit.

Unter den Blicken zweier amerikanischer Helden wurden drei neue gefeiert: Thommie Smith und John Wesley Carlos saßen auf der Tribüne und applaudierten. Zwei betagte Männer, die schon lange zu den Helden jener jungen Männer zählen, die da gerade auf der Laufbahn im Leichtathletikstadion von Eugene/Oregon einen erneuten WM-Meilenstein für die Gastgebernation aufgestellt hatten. Smith, heute 78 Jahre alt, und Carlos, mittlerweile 77, hatten bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko Gold und Silber über die 200 Meter gewonnen. Bei der Siegerehrung hatten sie ihre Hände in schwarze Handschuhe gehüllt und in den Himmel gestreckt. Als Protest gegen Rassismus und Ungerechtigkeit. Ein Zeichen, das unvergessen ist. Eine Szene, die zu den ganz großen Momenten der Sportgeschichte zählt.

Nun saßen die beiden Männer im Stadion, in dessen Katakomben sie der Welt bei der Heim-WM zuvor von ihrem damaligen und immer noch währenden Kampf gegen Ungerechtigkeit erzählt hatten. Sie sahen, wie die nachfolgende Generation von US-Amerikanern ebenfalls ein Zeichen setzte. Kein politisches, sondern ein sportliches. Noah Lyles (25), der Titelverteidiger, dominierte das 200-Meter-Rennen in 19,31 Sekunden - es war die viertbeste jemals über diese Distanz gestoppte Zeit. Nur Usain Bolt - bei seinem Weltrekord von 19,19 Sekunden 2009 in Berlin und dem ein Jahr zuvor aufgestellten vorausgehenden Rekord von 19,30 Sekunden bei den Olympischen Spielen in Peking - und dessen jamaikanischer Landsmann Yohan Blake in 19,26 Sekunden waren schon schneller. Auch Silber und Bronze gingen an Sprinter aus den USA. Kenneth Bednarek (23) war nach 19,77 Sekunden im Ziel und der erst 18-jährige Wunderjunge Erriyon Knighton brauchte 19,80 Sekunden. Erst Gold, Silber und Bronze über die 100 Meter, nun der komplette Medaillensatz über die doppelte Distanz – die USA haben sich als Sprintnation Nummer eins zurückgemeldet.

Noah Lyles - der Mann für die große Show

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„Jeder träumt von diesem Tag. Und heute kam er für mich. Ich habe endlich tun können, wovon ich seit Jahren geträumt habe, worauf ich so lange hingearbeitet habe“, sagte Lyles. Als seine Fabelzeit offiziell bestätigt wurde, riss er sich das Trikot vom Leib und stampfte wild auf der Tartanbahn herum. Anders als seine meist eher stoisch-anmutenden US-Sprintkollegen ist Lyles ein Mann für die große Show, bei der Publikumsvorstellung vor seinen 200-Meter-Auftritten in Vorlauf und Halbfinale verzog er das Gesicht zur Grimasse oder ließ die Muskeln spielen wie Comicheld Hulk. Diesmal streckte er die Arme theatralisch in den Abendhimmel, bevor er sich in den Startblock kniete und die Bahn entlang flog. „Ich hätte mir das nicht besser vorstellen können“, sagte Lyles, der sich mit der Zeit auch den US-Rekord von Michael Johnson holte, der 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta 19,32 Sekunden gelaufen war.

Aber halt, die USA sind die Sprintnation Nummer eins? Bei den Männern definitiv, bei den Frauen aber widersprach Shelly-Ann Fraser-Pryce. „Wir sind die größte Laufnation der Welt“, rief sie ins Stadionmikrofon und belegte dies mit Medaillen. Im Gegensatz zum 100-Meter-Rennen standen diesmal zwar nicht drei Starterinnen der Karibikinsel auf dem Treppchen, aber Gold und Silber gingen auch über die 200 Meter an Jamaika. Shericka Jackson rannte mit ihren 21,45 Sekunden einen WM-Rekord und die zweitbeste jemals gestoppte Zeit überhaupt. Nur Weltrekordhalterin Florence Griffith-Joyner (USA) war bei ihren 21,34 Sekunden jemals schneller als Jackson, die vergangenen Samstag bereits Silber über die 100 Meter geholt hatte. „Weltmeisterschafts-Rekord und persönliche Bestzeit – besser geht es nicht“, sagte die 28-Jährige, die lange auf die 400 Meter spezialisiert war und noch nicht lange auch über die kürzeren Distanzen überzeugt.

Shelly-Ann Fraser-Pryce feierte ihre Silbermedaille fast so euphorisch wie am Samstag noch das 100-Meter-Gold. Die Grande Dame des jamaikanischen Sprints hatte zuletzt 2013 in Moskau eine WM-Medaille über die 200 Meter geholt. Nun lag die 35-Jährige 0,36 Sekunden hinter Jackson. Bronze ging an Titelverteidigerin Dina Asher-Smith aus England in 22,02 Sekunden. Die wurde von den beiden Jamaikanerinnen gleich mit auf die Ehrenrunde genommen. An diesem Abend der Helden.