Peking. Der deutsche IOC-Präsident zieht Olympia-Bilanz. Für den Gastgeber China gibt es viel Lob, für das Umfeld von Kamila Walijewa Kritik.
Ein bisschen war es so, als hätte eine Politpersönlichkeit zum Staatsbesuch ein Flugzeug bestiegen. Abgang nach links für Thomas Bach: Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees setzte seine Brille auf, die eben noch vor ihm auf dem Pult im großen Pressekonferenzsaal des Medienzentrums gelegen hatte. Der 68-Jährige drehte sich noch einmal zur Seite, winkte den herangeeilten Fotografen für eine Nahaufnahme in die Kamera. Einen zufriedenen Eindruck vermitteln, das galt es im Endspurt der Winterspiele. Natürlich hatte Bach zuvor Worte gefunden, wie groß, wie schön, wie erfolgreich der China-Ausflug des olympischen Raumschiffs, das erst am Sonntag nach der Abschlussfeier wieder abheben wird, schon jetzt war. Dass der Abend vor seiner Bilanzrede jedoch einer der traurigsten in der jüngeren Olympiageschichte war, konnte auch er nicht verhehlen.
Diesen Abend hätte Bach im Capitol Indoor Stadium höchstselbst erleben können. Der Tauberbischofsheimer ist ja selbst größter Fan der Athletinnen und Athleten, wie er gerne betont; Wettbewerbe aller 15 Sportarten hat er nach 14 von 16 Wettkampftagen besucht. Wäre der oberste Olympier in der Arena gewesen, hätte er das nachholen können, was ihm im Hotelzimmer vor dem Fernseher vermisste.
Bach "verstört" über Umfeld von Walijewa
„Ich muss sagen: Ich war sehr, sehr verstört“, sagte Bach zu den Szenen, die sich auf dem Eis abgespielt hatten. Wie die erst 15 Jahre alte russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa, diese Ausnahmekönnerin, nur auf Platz vier landen konnte anstatt sich den Olympiasieg zu holen, den ihre Teamkameradin Anna Schtscherbakowa entführte. Zu sehen, wie die sportlich und durch den erst in Peking bekannt gewordenen positiven Dopingbefund gefallene Walijewa vom Eis schlich und von ihrer Entourage um Eteri Tutberidse („Warum hast du alles aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen?“) in Empfang genommen wurde, „lief mir kalt über den Rücken“, so Bach. Eine herablassende Geste der unerbittlichen Trainerin, aber kein Trost, als Hilfe nötig war im emotionalen Eisschrank: „Da habe ich mir Gedanken gemacht: Wie kann man so gefühlskalt sein gegenüber den eigenen Sportlerinnen?“
IOC will über Mindestalter bei Spielen nachdenken
Seit ihrem Olympiasieg mit der russischen Mannschaft in der vergangenen Woche hatte Kamila Walijewa viele Diskussionen ausgelöst. Über die Rechtmäßigkeit ihres Starts im Einzel. Über die Fairness gegenüber anderen Sportlerinnen, wenn sie unter Dopingverdacht steht. Über den Drill Tutberidses in der Moskauer Eislaufschule Sambo-70. Und zu guter Letzt zum Glück auch über den Schutz von Athletinnen, die vielleicht einfach noch zu jung sind für olympische Wettkämpfe. Der Druck, der der jungen Russin bei Sprüngen und Pirouetten anzusehen war, „liegt jenseits meiner Vorstellungskraft“, sagte der IOC-Präsident. Bach kündigte an, im Exekutivkomitee über das Mindestalter zur Teilnahme an Olympischen Spielen nachzudenken: „Ja, es gibt Themen, die besprochen werden müssen, und die betreffen Minderjährige in Wettbewerben von Erwachsenen.“ Mit der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada und den internationalen Fachverbänden wolle das IOC „solche Diskussionen anstoßen“.
Russische Trainerin Tutberidse: Umgang voller Erwartungen, aber ohne Herz
Kritik übte Bach vor allem an den Personen rund um das Jahrhunderttalent Kamila Walijewa. Das vermittle ihm „kein Vertrauen – weder in Bezug auf das, was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, noch auf das, was in der Zukunft ist.“ Tutberidse hinterließ in Peking nicht den Eindruck, als käme sie gerne und ausreichend ihrer Sorgfaltpflicht gegenüber schutzbefohlenen Schülerinnen nach. Ein Umgang voller Erwartungen, aber ohne Herz: Nur wenn diese kindlichen Wirbelwinde grazil sind und genügend Drehmoment haben für die Vierfachsprünge, sind sie für Tutberidse von Interesse. Also im Grunde genommen immer nur für einen olympischen Zyklus: Keine ihrer beiden Vorgängerinnen, Julia Lipnizkaja (heute 23) in Sotschi 2014 und Alina Sagitowa (19) in Pyeongchang 2018, traten zur Titelverteidigung an, doch Anna Schtscherbakowa sagte am Donnerstagabend: „Ich kann mir ein Leben ohne Eiskunstlauf nicht vorstellen.“ Die Olympiasiegerin ist 17 Jahre alt. Schon, muss man in ihrem Sport leider sagen.
Kamila Walijewa will B-Probe öffnen lassen
Für ihre offensichtlichen zwischenmenschlichen Defizite wird Tutberidse sich in Russland verantworten und daher weniger Folgen befürchten müssen. Allerdings rücken die 47-Jährige und der russische Mannschaftsarzt Filipp Schwezki noch in den Fokus der Ermittler, wenn es um Aufklärung geht, wie das gemäß der Wada-Liste verbotene Herzmittel Trimetazidin in einer an Weihnachten 2021 entnommenen Probe von Kamila Walijewa gefunden werden konnte. „Es ist enorm wichtig, diese Leute zu untersuchen, die für ihr Wohlergehen verantwortlich sind“, sagte Bach. Kamila Walijewa will zum Beweis ihrer Unschuld nun die B-Probe öffnen lassen. Ihre Anwälte erklärten am Freitag, es sei ja nur eine „extrem niedrige Konzentration“ von Trimetazidin gefunden worden, womöglich sei dem Stockholmer Anti-Doping-Labor ein technischer Fehler unterlaufen.
Das Drama um Kamila Walijewa: Wahre Worte unter TränenDie Großvater-Theorie, wonach Kamila Walijewa aus dem gleichen Glas wie ihr herzkranker Opa getrunken habe, ist zuletzt ins Wackeln geraten. Bach: „Ich musste mir schon viele Lügen anhören bei Dopingfällen, um festzustellen: Doping wird sehr selten einzeln vom Sportler betrieben. Da war immer ein Umfeld, in dem das passiert ist.“ Der 68-Jährige kündigte „sehr konsequente Maßnahmen“ an. Auf die Frage eines russischen Journalisten, welche Schuld das IOC an den Auswüchsen des Skandals habe, erklärte Bach: „Diejenigen, die ihr diese Substanz verabreicht haben, das sind die Schuldigen.“