Peking. Kamila Walijewa hielt dem Druck nicht stand und verpatzte ihre Kür. Die 15-jährige Goldfavoritin blieb ohne Medaille im Eiskunstlauf.
Ganz egal, ob Kamila Walijewa Gold, Silber oder Bronze gewonnen hätte – sie wird vor allem dafür in Erinnerung bleiben, was sie verloren hat. Und das ist ihre kindliche Reinheit. Man muss nur für das 15 Jahre alte Eiskunstlauf-Wunderkind aus Russland hoffen, dass ihm dies eines Tages wichtiger sein wird als der entgangene Olympiasieg an diesem denkwürdigen Abend im Capitol Indoor Stadium von Peking. Aber was ist die Unschuld Kamila Walijewa in diesem Augenblick schon wert?
Um 22.01 Uhr Ortszeit macht sich vor dem Teenager im schwarzen Kleid mit lauter Glitzersteinchen der Vorhang zum Umkleidebereich der Arena auf, durch den er endlich verschwinden kann. Der Traum vom Gold, für dessen Wahrwerden Menschen aus ihrem Umfeld offensichtlich über die Grenzen des Erlaubten hinaus gegangen sind, ist geplatzt. Die Tränen haben die Schminke über Walijewas Gesicht verteilt.
Gleich nach dem Ende ihrer Kür sieht es so aus, als würde sie am liebsten unsichtbar sein. Als die letzten Klänge von Ravels Bolero ertönen, spricht aus ihren Augen Verzweiflung, Wut, Enttäuschung. Sie schmeißt eine Faust nach vorne, als wollte sie anklagen: Seht her, was ihr mit mir gemacht habt. Auf jeden Fall nicht ein junges Mädchen geschützt, als es dringend Hilfe benötigt: Über der Goldfavoritin, der seit dem Bekanntwerden ihres positiven Dopingbefunds umstrittensten Athletin dieser Olympischen Winterspiele, bricht nach einem sportlichen Systemabsturz nun eine Welt zusammen.
17-jährige Schtscherbakowa holt sich Gold
„Rassija, Rassija“-Rufe von der Tribüne. Sie hätten Kamila Walijewa gelten sollen. Jetzt aber sind sie an Anna Schtscherbakowa gewidmett. Die nur zwei Jahre ältere Weltmeisterin ist die zweite tragische Person des Abends. Schtscherbakowa hat soeben den Wettbewerb gewonnen, der für gewöhnlich ein Hochamt der beiden olympischen Wochen ist, aber nun zu einer herzzerreißenden Tragödie wird. Denn die ganze Welt dreht sich um Walijewa. Nicht mit der spektakulärsten, aber einer beeindruckenden und vor allem sicheren Kür holt Schtscherbakowa 255,95 Punkte und damit Gold vor ihrer Landsfrau Alexandra Trusowa (251,73) und der Japanerin Kaori Sakamoto (233,13). Walijewa, die Führende nach dem Kurzprogramm, wird mit 224,09 Punkten nur Vierte.
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„Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und bin überwältigt“, sagt die 17-Jährige auf der Pressekonferenz in einem kalten Saal der Arena. „Ich habe das Maximum erreicht – und das ist das Wichtigste für mich.“ Anna Schtscherbakowa sendet Liebesgrüße aus Moskau an ihre verbitterte Mannschaftskameradin, die wieder wortlos in der Nacht verschwindet: „Ich habe Kamila zugesehen. Vom ersten Sprung an war ihr anzumerken, wie schwierig es für sie war. Aber das werde ich ihr alles noch selbst sagen.“ Alle drei Russinnen wurden ja von der wegen ihrer zweifelhaften Methoden umstrittenen Trainerin Eteri Tutberidse in der Moskauer Sambo-70-Drillanstalt olympiafertig gemacht. Das Motto: Zu jung kann die nächste Goldanwärterin nicht sein.
Sieger-Trio kommt nun doch in den Genuss einer Medaillenzeremonie
Weitere Fragen, ob es nun fair war, dass Walijewa in Peking starten durfte, nachdem in einer an Weihnachten entnommenen Dopingprobe das verbotene Herzmittel Trimetazidin festgestellt worden war und ihr Start im Einzel erst durch ein Eilverfahren beim Sportgerichtshof Cas geklärt werden musste, beantwortet Schtscherbakowa nicht. Immerhin freut es die drei Medaillengewinnerinnen, dass sie nun doch an diesem Freitag in den Genuss einer Siegerehrung kommen, die das IOC wegen der noch ausstehenden Hauptuntersuchung, ob Walijewa gedopt hat, für den Fall mit ihr auf dem Podium prophylaktisch abgesagt hatte. Trusowa: „Ich bin sehr glücklich, dass es eine Zeremonie gibt und wir unsere Medaillen bekommen.
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Walijewa zerbricht an der Last, die an diesem Abend auf ihren Schultern liegt. Bereits beim zweiten Sprung, dem Dreifach-Axel, greift sie aufs Eis, zweimal stolperte sie später bei einem Vierfach-Toeloop zu Boden. Als sie schließlich vom Eis geht, wird’s noch kälter: Ihre strenge Trainerin nimmt sie erst nach einer Weile mehr gezwungen als herzlich in den Arm. Die Freude über Gold Anna Schtscherbakowa, dem dritten in Serie einer Tutberidse-Schülerin nach Julia Lipnizkaja 2014 in Sotschi und Alina Sagitowa 2018 in Pyeongchang, ist nicht größer als die Enttäuschung über das Scheitern der Musterschülerin.
Für die Elfjährigen beginnt das Projekt 2026 - was wird aus Walijewa?
Und so endet eine Saga, der auf jeden Fall düstersten bei den Olympischen Winterspielen von Peking. Kamila Walijewas Perspektive ist entmutigend: Die Juristerei wird sich mit der Arbeit der Dopingjäger beschäftigen, der Internationale Sportgerichtshof Cas muss zu dem Entschluss kommen: Hat die Russin bewusst ihre Leistungen mit verbotenen Mitteln steigern wollen? War sie gefangen in einem System, das ihr keine Chance ließ – die man natürlich immer im Leben hat, aber vielleicht das Ende ihrer sportlichen Laufbahn bedeutet hätte, bevor sie das Wort Weltkarriere schreiben kann? Oder hat Kamila Walijewa vielleicht wirklich nichts gewusst von kriminellen Machenschaften um sie herum?
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Unter Umständen wird man von der 15-Jährigen sportlich nie wieder hören, so hart ist das in Russland – wenngleich Kamila Walijewa noch jung genug ist, um ein Comeback zu schaffen, einen zweiten Anlauf zu nehmen bei Olympischen Spielen. Ob es dann noch einmal zu Gold reichen würde, sollte sich an den Praktiken der Sambo-70-Schule nichts ändern, ist trotzdem etwas anderes. Für den Fall, dass alles beim Alten bleibt, beginnt ab heute in Moskau für die nächsten Elfjährigen das Projekt Olympia in Cortina d’Ampezzo 2026.