München. Bayern München rauscht durch die Gruppenspiele der Champions League. Nach dem 5:0 gegen Kiew spürt Trainer Nagelsmann eine “Gier“.
Auch hinterher funktionierten Offensive und Defensive, jedenfalls bei Julian Nagelsmann. Das wurde deutlich, als dem Trainer die Hymnen auf seine Mannschaft des FC Bayern überhöht vorkamen und er die Frage beantwortete, ob er in der Halbzeitpause so wenig zu besprechen gehabt habe und deshalb so schnell wieder aus der Kabine gekommen sei.
München mit perfekter Zwischenbilanz
Nein, nein, antwortete Nagelsmann und nahm die Zuhörer mit in die Umkleide: Meist gehe es dort um drei bis maximal fünf Szenen, und diesmal seien es fünf gewesen. Das ließ sich als Hinweis darauf verstehen, dass längst nicht alles optimal gelaufen war. Und warum dann seine schnelle Rückkehr? „Der große Unterschied zu sonst: Ich musste nicht Pipi“, sagte Nagelsmann, „von dem her konnte ich die handgestoppten 35 Sekunden, die ich sonst brauche, schneller wieder raus.“
Es war eine launige Anmerkung, die aber nichts an seiner Expertise änderte, dass es genug Anlass zu Korrekturen gegeben hatte beim 5:0 (2:0) gegen Dynamo Kiew. Denn so perfekt, wie die Zwischenbilanz von sechs Punkten und 8:0 Toren in der Champions League aussieht, war der FC Bayern am Mittwochabend nicht aufgetreten, vor allem nicht in der ersten Halbzeit.
Lewandowski, Gnabry, Sané und Choupo-Moting
Kiew spielte seine Konter nur nicht gut genug aus, um Tore zu erzielen, was einer besseren Elf womöglich gelungen wäre. Trotz dieser Makel reichte es zum ungefährdeten und in der zweiten Halbzeit auch überzeugenden Bayern-Sieg durch die Tore von Robert Lewandowski (12./Handelfmeter und 27.), Serge Gnabry (68.), Leroy Sané (74.) und Eric Maxim Choupo-Moting (87.). In den kommenden Gruppenspielen bei und gegen Lissabon kann schon der vorzeitige Einzug ins Achtelfinale erreicht werden.
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Barcelonas 0:3-Niederlage bei Benfica im Parallelspiel? „Das interessiert uns nicht so großartig“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka mit dem Selbstbewusstsein eines Titelkandidaten, „wir wollen unsere Spiele gewinnen. Wir wollen eine Entwicklung weitermachen, in jedem Spiel den nächsten Step machen.“
Kahn: Julians Handschrift schon sichtbar
Da sind sie auf einem guten Weg beim FC Bayern, und zu tun hat das auch damit, dass sie unter ihrem neuen Trainer Nagelsmann neben der gewohnt fulminanten Offensive die Defensive vermehrt für sich sich entdeckt haben. Nach einem Unentschieden und danach neun Siegen in Serie stehen sie nach den zehn Pflichtspielen dieser Saison bei 46:6 Toren, macht einen Schnitt von 4,6:0,6 pro Partie.
Zum Vergleich: Unter Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick kamen die Bayern in 48 Spielen der Saison 2020/21 auf 135:59-Tore, im Schnitt 2,81:1,23 pro Partie. „Wir können wieder zu Null spielen“, hatte Vorstandschef Oliver Kahn schon vor dem Anpfiff bei DAZN gelobt, es sei „sehr, sehr schnell gegangen, dass man Julians Handschrift sieht“.
Münchener mit neuer Wertigkeit der Defensive
Der neue Bundestrainer Flick hatte sich als Augenzeuge in der Münchner Arena ein Bild machen können von Nagelsmanns Neuerungen. Zu diesen zählt die veränderte Struktur im Aufbau mit einer verstärkten Absicherung im Zentrum für den Fall von Ballverlusten ebenso wie die neue Wertigkeit der Defensive.
Goretzka sprach davon, „die Mentalität zu haben, Tore machen zu wollen, aber auch zu verteidigen“. Nagelsmann sagte: „Es geht auch darum, diese Gier, die die Mannschaft nach vorne hat, auch nach hinten zu haben.“ Später sagte er über „die beste Szene“ des Abends, in der Dayot Upamecano in der 89. Minute beim Stande von 5:0 noch voller Ehrgeiz einen Querball geklärt und gejubelt habe: „Diese Gier in beide Richtungen zu haben, diese Gier zu entwickeln, das bedeutet mir viel.“
Abwehr als Teil einer angriffslustigen Idee
Den neuen Stellenwert der Defensive begründete Nagelsmann auch mit Ökonomie. Weniger Gegentore bedeuteten auch weniger unnötige und kräftezehrende Aufholjagden. Das kann in einer langen Saison durchaus bedeutsam sein.
Es ist aber ein weiterhin sehr offensiver Ansatz, bei dem die Defensive nur nicht geringgeschätzt werden soll. Anders als beim einstigen Schalker Ideal unter Trainer Huub Stevens („Die Null muss stehen“) stellt Nagelsmann die Abwehr nicht in den Vordergrund. Sie ist vielmehr Teil seiner angriffslustigen Idee.
Im Frühjahr warten auf Bayern die großen Spiele
Die Null kann stehen, ließe sich für den FC Bayern als Leitmotiv formulieren, und in der Hälfte der Pflichtspiele ist das gelungen. Unter Flick war das 2020/21 in weniger als einem Viertel der Spiele der Fall (11 von 48). „Für uns alle ist es sehr wichtig, dass wir viele Zu-Null-Spiele haben. Dann sind wir selbstbewusst in der Defensive“, sagte Torwart Manuel Neuer, der frühere Schalker. Zu wissen, stabil stehen zu können, könnte in den großen Spielen des Frühjahrs in der Tat sehr hilfreich sein.
Es passte zu diesem 5:0, dass Sané den größten Szenenapplaus für einem langen Sprint nach hinten samt Balleroberung bekam. Gefeiert von den Fans wurde zudem Abwehrspieler Niklas Süle, der sich oft in die Offensive eingeschaltet hatte. Die Wertschätzung der Anhänger für Defensive wie Offensive gefiel auch Nagelsmann, und er amüsierte sich köstlich, als er von Süles launiger Anmerkung zu den Sprechchören berichtete. Der Trainer erzählte es so: „Niki hat gesagt, das war alles Familie aus Frankfurt, die für ihn gejubelt haben.“