Tokio. 21 Jahre nach Heike Drechsler hat Deutschland wieder eine Weitsprung-Olympiasiegerin: Malaika Mihambo triumphiert mit 7,00 Metern.

Ein Jahr lang hat Malaika Mihambo gewusst, dass sie die beste Weitspringerin der Welt sein kann. Als sie es tatsächlich ist, stößt sie einen spitzen Schrei aus, der Tokios Nationalstadion vermutlich sogar mit vollbesetzten Rängen hätte erzittern lassen.

Von der 27-Jährigen fällt in diesem Moment eine immense Last ab: Sie hüpft auf und ab, über ihre Wangen laufen erste Tränen. Olympiasiegerin! Welch ein Wort, welch eine Leistung. Welt- und Europameisterin war sie ja schon vorher. „Ich kann das Gefühl kaum beschreiben“, sagt Mihambo, bei 36 Grad im Stadion um Fassung ringend, nach dem härtesten Wettkampf ihrer Karriere. „Ich bin dankbar, dass ich jetzt als beste Version meiner Selbst hier stehen und es genießen kann.“

Genuss ist das Letzte, woran Malaika Mihambo bei ihrem finalen sechsten Sprung denkt. Nach ihr kommen nur noch Ese Brume aus Nigeria und die Führende Brittney Reese aus den USA, die beide zu diesem Zeitpunkt 6,97 Meter gesprungen sind. Die Medaillen sind vergeben, um sich vom Bronze- auf den Goldplatz zu verbessern, muss sich Deutschlands zweimalige Sportlerin des Jahres um drei Zentimeter steigern.

Banges Warten nach dem Sprung

Mihambo läuft los, sie hebt ein gutes Stück, fast 20 Zentimeter, vor dem Absprungbalken ab, fliegt und landet in der Sandgrube – irgendwo rund um die Sieben-Meter-Marke. Warten, Mihambo kniet nieder, vergräbt vor Nervosität das Gesicht in ihren Händen. Dann die Weite – 7,00 Meter, Platz eins, und wieder Bangen. „Für mich ist das ein schlimmer Moment“, sagt sie später, „weil man selbst nichts mehr machen kann.“ Dann springen Brume und Reese – sie haben die Weite drauf, bringen sie an diesem Tag aber nicht in den Sand. Mihambo kann ihr Glück kaum fassen, der Stadion-DJ spielt „An Tagen wie diesen“ von Fettes Brot. Der Refrain passt: „Absolute Wahnsinnsshow“. Oder wie Mihambo sagt: „Das waren mit die wichtigsten sieben Meter meines Lebens.“

Mihambo empfindet „ein bescheidenes Glücksgefühl“

Das Wort Olympiasiegerin nimmt Malaika Mihambo später, als sie den Innenraum verlassen hat mit ihrem Rucksack und Schwarzrotgold-Fahne auf dem Rücken, nicht einmal in den Mund. Sie ist in Deutschland nicht der Liebling der Massen, aber aufgrund ihres angenehm zurückhaltenden Wesens eine vielrespektierte Sportlerin. Nicht wenige haben deshalb von ihr dieses Gold erwartet. Mihambo empfindet nun „ein bescheidenes Glücksgefühl“, sagt sie. „Ich hatte niemandem etwas zu beweisen, ich musste nicht nach Tokio reisen und Gold holen. Ich konnte mich auch so wohlfühlen und sagen: Ich bin eine gute Sportlerin, ich mag mich als Mensch. Das zu realisieren, hat mir die Lockerheit gegeben.“

Nervenstärke musste sie enorm in den zurückliegenden zwölf Monaten beweisen. Der Anlauf bereitete der Springen von der LG Kurpfalz nach einer Verletzung immer wieder Probleme. Was sich so leicht anhört, ist in Wirklichkeit ein komplexes System: Mihambo verkürzte den Anlauf von 20 auf 16 Schritte, das bedeutet weniger Geschwindigkeit, dafür mehr Sicherheit beim Treffen des Balkens. Doch die Sieben-Meter-Sprünge, die sie 2019 unter anderem bei der WM in Doha so konstant abgerufen hatte, wollten nicht mehr gelingen. „Es gab viele Tiefen und bis zum Juni etliche Selbstzweifel“, sagt sie nun.

Mihambo zeichnet Entdeckergeist aus

Der Anlauf war eine Baustelle. Dazu kam ein geplatzter Traum: Nachdem ihr langjähriger Trainer Ralf Weber im vergangenen Sommer seine Karriere beendet hatte, wollte die Olympia-Vierte von Rio 2016 zum Training in die USA. Die Corona-Pandemie machte den geplanten Standortwechsel zu einem der prominentesten Leichtathleten der Welt jedoch unmöglich. An der Universität von Houston wollte sich Mihambo von Sprint- und Weitsprung-Legende Carl Lewis noch besser machen lassen, ihr schon feines Zusammenspiel von Anlaufgeschwindigkeit und Absprungkraft noch weiter optimieren. Diesen Schritt holt sie nun zur neuen Saison nach: „Ich will mich dort umgucken.“ Mihambo zeichnet ein Entdeckergeist aus: beim Streben nach neuen Höchstleistungen und privat, wenn sie bei Rucksacktouren Indien oder Thailand auf eigene Faust erkundet.

Neue Reize konnte ihr fortan aber auch Ulrich Knapp übermitteln, der die Koordinierung der Tokio-Vorbereitung übernahm. „Früher war er nur mein Bundestrainer“, sagt Mihambo. „Ihn jetzt als Menschen kennengelernt zu haben, macht mich sehr glücklich.“ Knapp schaffte es, seiner Athletin das Selbstvertrauen zu vermitteln, das ihr auch bei den Anlaufproblemen in Tokio beim vierten und fünften Sprung half. So hatte Mihambo nun im entscheidenden Moment die Sicherheit für den ersten offiziellen Sieben-Meter-Satz des Jahres: „Deshalb ist dieser Wettkampf für mich so besonders, weil der harte, aber lehrreiche Weg am Ende mit Gold bei Olympia gekrönt wurde.“

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Malaika Mihambo hat nun alles in ihrem Sport gewonnen. Der Fokus rückt auf andere Ziele: „Für mich ist es interessant, herauszufinden: Wie weit kann ich noch springen?“, sagt sie. Die 7,30 Meter aus Doha sind ihre Bestleistung. Heike Drechslers Deutscher Rekord liegt bei 7,48 Metern, der Weltrekord von Galina Tschistjakowa aus der ehemaligen Sowjetunion sogar bei 7,52 Metern. „Ich bin neugierig darauf, zu sehen, wo ich noch hinkommen kann.“ Carl Lewis wird versuchen, ihr die Antworten darauf zu geben.