Tokio. Nachdem die deutschen Beckenschwimmer in Rio noch ohne Medaille geblieben waren, gab es in Tokio zweimal Bronze. Eine Bilanz.
Caeleb Dressels Oberkörper hat Ausmaße einer Felsformation in den Rocky Mountains. Um die Hüfte des US-Schwimmstars zu umschließen, braucht man dagegen nicht viel mehr, als die Daumen und Zeigefinger zweier Hände zusammenzuführen. Trotzdem plusterte Dressel seinen Bauch, auf dem auch bisher nichtolympische Schachwettbewerbe ausgetragen werden könnten, auf das Doppelte auf, als der 24-Jährige aus Green Cove Springs/Florida seinen Teamkollegen Zach Apple anfeuerte.
„Come on, come on“, Dressel brüllte den kraulenden Apple im letzten Rennen der Beckenwettbewerbe im Tokioter Aquatics Centre zum Olympiasieg und zur Weltrekordzeit von 3:26,78 Minuten. Dann riss er sich die Badekappe ab und spannte die Muskeln an. Schwimmen ist in Amerika große Show – und Dressel ist aktuell der King of Swimming. Er wird als der große Star dieser Spiele in Erinnerung bleiben, es war sein fünftes Gold der vergangenen Tage, er hat nun insgesamt sieben Goldmedaillen und nur noch zwei weniger als Legende Mark Spitz. Michael Phelps, 23-maliger Champion, ist ja sowieso außerhalb jeder Reichweite. Dressel ganz uneitel: „Der Standard für die USA ist Gold – dafür waren wir hier.“
Wellbrock will über Olympia-Bronze "nicht keinesfalls meckern"
Auch Deutschlands bester Freistilschwimmer Florian Wellbrock wird in Erinnerung bleiben – als zweimaliger Olympiasieger über Strecken, auf denen jedoch gar keine Medaillen vergeben werden. Vergangene Tage waren es die 750 Meter, am Sonntag die 1450 Meter – jeweils vor der letzten Wende lag der 23-Jährige in Führung, jeweils musste er auf der finalen 50-Meter-Bahn aber noch selbige an die Konkurrenz abtreten. Über die offiziell also 800 Meter entglitten ihm sämtliche Medaillenfarben. In seiner Paradedisziplin 1500 Meter, in der er Europa- und Weltmeister ist, blieb nun wenigstens noch Rang drei. „Die beiden Jungs haben einen richtig guten Job gemacht“, sagte Wellbrock, „ich möchte keinesfalls über eine Bronzemedaille bei Olympischen Spielen meckern.“
Mochte er nicht, tat er aber zwischen den Zeilen. Denn dass es in diesem Finale nicht um eine Bestzeit, sondern einzig und allein um die Platzierung, war relativ schnell klar. Wellbrock, der Amerikaner Robert Finke, der Ukrainer Michailo Romantschuk und der italienische Titelverteidiger Gregorio Paltrinieri würden die Podestplätze unter sich ausmachen. Ab 300 Metern diktierte der Wellbrock, der in Magdeburg zum Weltklasseschwimmer reifte, das Geschehen. Als er sich bei der letzten Wende mit den Füßen am Beckenrand abdrückte, war sein Vorsprung auf 0,72 Sekunden angewachsen. 1450 Meter – der Olympiasieg, der keiner war. „Leider konnte ich das nicht halten“, sagte Wellbrock, als er mit einem weißen Handtuch um die Schultern die letzten 50 Meter erklärte.
Der Ukrainer und der Amerikaner hängten den Deutschen ab: „Beim Romantschuk hat es mich ein bisschen überrascht.“ Von Finke hätte er es seit dem 800-Meter-Rennen wissen müssen, dass eine halbe Länge kein ausreichendes Polster ist. Wie im ersten Langstreckenrennen schlug Finke (14:39,65 Minuten) als Erster an, dahinter nun Romantuschuk (+ 1,01 Sekunden) vor Wellbrock (+ 1,26). „Am Ende fühlte ich mich machtlos, als ich sah, dass Finke noch mal richtig explodiert.“
Wellbrock hat am Donnerstag noch die Chance auf sein erstes Olympia-Gold
Wellbrock durchlebt noch immer eine imposante Entwicklung. Bei den Rio-Spielen vor fünf Jahren landete er als 32. unter fernen schwammen. Spätestens seit den WM-Titeln 2019 in Gwangju über 1500 Meter und über 10 Kilometer im Freiwasser, wo er am Donnerstag seinen letzten Angriff auf Olympisches Gold unternimmt, wird der gebürtige Bremer bei internationalen Wettkämpfen von den Trainern der Mitbewerber respektvoll beäugt.
In Tokio lasteten immense Erwartungshaltungen auf ihn. Wellbrock wähnte sich jedoch zu keiner Zeit auf alleiniger Rettungsmission für den schwer leck geschlagenen, weil in London 2012 und Rio 2016 medaillenlosen Deutschen Schwimm-Verband. Vor den Spielen in Japan erschien dieses Vorhaben wie die Bergung der Titanic. Obwohl Sarah Köhler (27) in Tokio Bronze über 1500 Meter Freistil geholt hatte – den siebten Platz über 800 Meter am Samstag nannte sie einen „Wehmutstropfen, weil es eine geschenkte Medaille gewesen wäre“ – und er selbst nun nachlegte, ist noch der ein oder andere Rettungsring nötig, damit der DSV irgendwann mal wieder im Kielwasser der enteilten Topnationen USA und Australien mitschwimmen kann. „Es ist schon als sehr schön, dass der Verband besser abgeschnitten hat als die beiden letzten Male“, bilanzierte der 23-Jährige und sprach im Namen seiner künftigen Angetrauten Sarah Köhler: „Das macht uns stolz.“
Deutsche Beckenschwimmer warten seit 1988 auf Olympia-Gold
Das Paar wird auch in den nächsten Jahren hauptverantwortlich die zarte Aufbruchstimmung im deutschen Beckenschwimmen transportieren müssen. Aus dem Jahreszahlendreiklang 1904, 1988 und 2008, mit dem beide zuletzt konfrontiert wurden, bedarf künftig zumindest letztere keiner weiteren Erwähnung. Britta Steffens Goldrennen 2008 in Peking bedeuteten bis zu den jüngsten Erfolgen der Schwimm- und Lebensgemeinschaft Wellbrock/Köhler die letzten deutschen Medaillen. Seit 1988, seit Albatros Michael Groß für die BRD und Uwe Daßler für die DDR, stand kein deutscher Schwimmer mehr ganz oben auf dem Siegerpodest. Und mehr als 100 Jahre ist gar Emil Rauschs Olympiasieg auf einer Langstrecke her.
Wenn alles gut verläuft, kann Florian Wellbrock diese beiden historischen Marken 2024 in Paris vergessen machen.