Tokio. Erste Goldmedaille bei Olympia für Deutschland: Ricarda Funk siegt überraschend im Kanuslalom und denkt an das Leid in ihrer Heimat.
Der Schrei musste raus. Schrill und laut. Ganz untypisch für Ricarda Funk. Aber die Fahrt auf den olympischen Wellen war nahezu perfekt, die Medaille sicher. An Gold dachte die 29-jährige Slalomkanutin in den Minuten danach nicht. Die Fehler, die Topfavoritin Jessica Fox aus Australien bei ihrer finalen Fahrt durch den Stangen-Parcours im Kasai Canoe Slalom Centre in Tokio machte, registrierte Ricarda Funk kaum. „Ich habe gar nichts gedacht in dem Moment“, sagte sie später. „Ich war ja schon im siebten Himmel, weil ich eine Medaille gewonnen hatte, das war unglaublich für mich.“
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Und es wurde noch unglaublicher. Am Ende war es ihr Trainer Thomas Apel, der den für den Sieger-Coach obligatorischen Schubser in die Fluten erhielt. Was nicht wirklich schlimm ist in Tokio, wo es im Wasser genauso wie draußen Temperaturen von rund 30 Grad hat. Und Ricarda Funk stand bei der Siegerehrung in der Mitte, hatte Gold um den Hals hängen, und die deutsche Hymne wurde gespielt. Neben ihr als Zweitplatzierte stand die Spanierin Maialen Chourraut, Goldmedaillengewinnerin bei den Spielen 2016. Und auf der anderen Seite als Drittplatzierte die von Ricarda Funk bewunderte Jessica Fox aus Australien, Olympiazweite 2012 und Dritte 2016.
Im größten Moment ihrer Laufbahn dachte Ricarda Funk auch an unfassbares Leid. Des Sportes wegen lebt und trainiert sie in Augsburg, aber geboren ist sie in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Ihre Eltern leben bis heute in der Region, die von der Flutkatastrophe besonders stark betroffen ist, sie helfen dort bei den Aufräumarbeiten. Die Situation habe sie sehr mitgenommen, erzählte Ricarda Funk. Es sei „unfassbar, was dort passiert ist“, bei all den Bildern habe sie „einige Male Tränen vergossen“. Und sie sendete eine berührende Botschaft in die Heimat: „Ich schicke ganz viel Liebe nach Hause und sage nur: Der Kreis Ahrweiler ist stark, und gemeinsam schaffen wir das.“
Deutschlands erste Goldgewinnerin der Spiele von Tokio bewies viel Feingefühl an ihrem Freudentag. Die großen Damen ihres Sports hatten es nicht geschafft, die 105,50 Sekunden der deutschen Olympia-Debütantin zu unterbieten. Für Chourraut stoppte die Uhr nach 106,63 Sekunden, und Fox hatte sich durch Torstangenberührungen zwei Zeitstrafen eingehandelt und musste mit 106,73 Sekunden zufrieden sein. Nach dem ersten Fehler habe sie sich noch keine großen Sorgen gemacht, erzählte Fox. In der Tat hätte sie mit nur zwei Strafsekunden ja auch noch Gold gewonnen. Aber der zweite Patzer war einer zu viel. „Das macht unseren Sport aus“, sagte sie. „Manchmal hast du das Gefühl, über das Wasser zu fliegen. Und manchmal musst du den ganzen Weg bis ins Ziel kämpfen.“
Slalomkanuten sind voll im Soll
Ricarda Funk flog an diesem Tag in Tokio. Oder tanzte. Elegant und fehlerlos. Sie ist eine für eine Kanutin sehr zierliche Person, eine ehemalige Turnier-Tänzerin mit ausgemacht günstigem Kraft-Last-Verhältnis und ausgereiftem Wassergefühl. Ihre Medaille ist auch die erste für die deutschen Kajak-Damen seit dem Gold von Elisabeth Micheler-Jones 1992 in Barcelona. Damit sind die Slalomkanuten nach zwei von vier Wettbewerben und dem dritten Platz von Canadierfahrer Sideris Tasiadis am Tag zuvor voll im Soll: Sie hatten zwei Medaillen als Ziel für Tokio ausgegeben.
Wie das häufig so ist in großen Momenten, kamen in Ricarda Funk, die für ihren Traum von überhaupt nur einer Olympia-Teilnahme den langen Anlauf von zehn Jahren gebraucht hatte, allerlei Emotionen und Erinnerungen hoch. Schon 2012 und 2016 war sie eine Top-Kanutin, sie hatte damals das Ticket vor Augen, scheiterte aber beide Male in der nationalen Ausscheidung. Vor allem nach der verpassten Olympia-Quali 2016 sei sie „unglaublich traurig und enttäuscht“ gewesen, erinnert sie sich in Tokio.
Sie war dann nicht dabei, als bei den Spielen in Rio ihr damaliger Bundestrainer Stefan Henze an den Folgen eines Autounfalls starb. Der Gedanke an ihn treibt ihr Tränen in die Augen. Er sei tief in ihrem Herzen, fahre immer mit, sagt Ricarda Funk.
Für die Slalomkanuten geht es nun an diesem Mittwoch mit den Vorläufen der Canadier-Frauen und Kajak-Männer weiter. Für Deutschland sind Andrea Herzog und Hannes Aigner dabei. Auch sie mit guten Aussichten auf Medaillen. Aigner gewann bei den Spielen 2012 in London Bronze und ist Weltmeister von 2018. Herzog ist amtierende Weltmeisterin mit einer Zusatzmotivation: Sie könnte die erste Olympiasiegerin in ihrer Disziplin werden. Im Rahmen des Weiblicherwerdens der Olympischen Spiele, das das IOC zuletzt mit etwas mehr Verve vorantrieb, wurde im Kanuslalom der Canadier-Zweier der Männer aus dem Programm genommen und durch den Canadier-Einer der Frauen ersetzt.
Freude über Gleichberechtigung
Das freut auch Ricarda Funk. Anders als die Australierin Jessica Fox, die auch in der zweiten Bootsklasse der Frauen an den Start gehen wird, traue sie sich auf Knien und mit Stech- statt Doppelpaddel zwar keine Fahrt auf der olympischen Strecke zu, sagt die frisch gekürte Kajak-Olympiasiegerin. „Aber ich finde es toll, dass jetzt Gleichberechtigung herrscht, dass die Mädels im Canadier zeigen können, was sie drauf haben.“ Und ganz persönlich genieße sie es sehr, „nicht das einzige Mädel im Team zu sein“. Nicht die einzige Tokio-Olympiasiegerin der deutschen Slalomkanutinnen zu bleiben, das würde ihr wohl auch gefallen.