Tokio. Dirk Schimmelpfennig, Deutschlands „Chef de Mission“, spricht im Interview über Corona-Einschnitte und deutsche Medaillen-Erwartungen.

Dirk Schimmelpfennig hatte im übertragenen Sinn die Schlüssel zur Stadt. Noch bevor der erste deutsche Sportler in Tokio das Olympische Dorf betrat, hatte der Leistungssportchef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) die deutsche Mannschaft zu den besonders beäugten Sommerspielen in Japan angemeldet. Der 59-Jährige, früher Cheftrainer und Sportdirektor im Deutschen Tischtennis-Bund, ist der Chef de Mission.

Herr Schimmelpfennig, für Sie sind es die ersten Sommerspiele als Chef de Mission. Und Sie wissen jetzt schon, dass es nie dagewesene Spiele sein werden. Noch dazu ohne Zuschauer.

Dirk Schimmelpfennig: Ich hatte das Vergnügen, seit 1992 alle Olympischen Sommerspiele mitzuerleben. Ehrlich gesagt habe ich damals gedacht, dass Rio 2016 mit den Sanitäranlagen im dortigen Olympischen Dorf der Höhepunkt an Herausforderungen gewesen wäre. Aber durch die Pandemie haben die Voraussetzungen heute noch mal eine andere Dimension erhalten. Es werden Spiele mit sehr starken Einschränkungen, es wird ein anderes olympisches Gefühl als sonst geben.

Pyeongchang 2018 war Ihr Debüt als Chef de Mission. Sie haben unter anderem prägende, einflussreiche Vorgänger wie Walther Tröger und Ulrich Feldhoff, die als Grandseigneurs des deutschen Sports gelten. Wofür wollen Sie stehen?

Diese Rolle hat sich in all den Jahren sicher verändert. Bei den berühmten Vorgängern war die Funktion eher von großem politischen Einfluss geprägt. Den Chef de Mission sehe ich heute in einer Sportmanagement-Funktion. Mein Team und ich versuchen, den Teilmannschaften der einzelnen Spitzenverbände in Tokio die besten Rahmenbedingungen zu bieten, damit unsere Athletinnen und Athleten ihre bestmöglichen Leistungen erreichen können.

Nun stehen die Sommerspiele von Tokio mit einem Jahr Verspätung an: Worauf freuen Sie sich bei diesen Spielen?

Vor allem auf den Sport. Es wurde eine Basis in der Pandemiezeit gefunden, um diese Spiele möglich zu machen. Diese Austragung ist jetzt mit unfassbar vielen zusätzlichen, aber auch zwingend erforderlichen Aufgaben für alle Beteiligten verbunden.

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Müssen diese Olympischen Spiele unbedingt stattfinden?

Die Austragung der Spiele betrachten wir aus verschieden Gründen als richtig und wichtig. Den Athletinnen und Athleten bietet sich die Möglichkeit, sich ihren olympischen Traum zu erfüllen, nur alle vier Jahre, mitunter auch nur einmal im Leben. Manche haben zudem vielleicht nur in diesem Jahr die Chance, eine Medaille zu gewinnen. Verantwortungsbewusst ausgetragene Spiele können das Signal aussenden, dass wir mit der Pandemie umgehen können und aus dieser schwierigen Phase der letzten Monate herauskommen.

Wie groß ist Ihr Vertrauen in die Schutzmaßnahmen, die das Organisationskomitee, aber auch der DOSB für Tokio getroffen haben?

Die Überlegungen und Maßnahmen sind überzeugend. Das Entscheidende wird sein, dass wir diese nun zu 100 Prozent umsetzen. Wir gehen nun konsequent unsere vier Schritte, um den größtmöglichen Schutz zu schaffen.

Welche sind das?

Die Impfung ist Schritt eins. Schritt zwei sind die täglichen Schnelltests und die Überprüfung unseres Gesundheitszustandes vor Ort. Als Drittes werden wir Masken tragen und als Viertes auch im Olympischen Dorf auf Abstand, Hygiene und Belüftung achten. Wir erwarten in Tokio eine gewisse Separierung, mit der wir Situation und Gefühle verlieren, die Olympische Spiele eigentlich ausmachen. Die Gesundheit steht dieses Mal auch über dem Zusammenkommen der Athleten aus aller Welt.

Es gab für Athletinnen und Athleten keine Impfpflicht – wie viele von ihnen haben sich entschlossen, auf die Impfung zu verzichten?

Wir gehen davon aus, dass das Team Deutschland deutlich mehr als 90 Prozent geimpft sein wird.

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Es werden Spiele ohne Flair, wenn der Basketballer aus Deutschland nicht mit der Fechterin aus Frankreich und dem Schwimmer aus Südafrika mal gemeinsam essen oder gar feiern darf.

Wir haben mit unseren Athletinnen und Athleten vorab ausführlich über die Einschränkungen und Konsequenzen gesprochen. Die Sportler haben gesagt: Wenn es irgendeinen Weg gibt, diese Olympischen Spiele auszutragen und sie erleben zu können, müssen wir diesen gehen. Das klingt vielleicht alles sehr düster, aber im Sport sind wir gewohnt, dass die allen bekannten Regeln befolgt werden müssen. In Tokio kommen nun die Regeln der Corona-Schutzmaßnahmen hinzu.

Welchen Eindruck haben Sie: Wie sind die Athleten durch die Pandemie-Zeit gekommen, welche Sorgen haben sie?

Ein großer Nachteil war, dass nahezu das gesamte Wettkampfsystem weggefallen ist. Das ist für den Leistungsaufbau in gewissen Sportarten nicht gut, wenn man keine Rückmeldung durch Ergebnisse bekommt, wo man im internationalen Vergleich steht. Viele Spitzenverbände weisen deshalb schon darauf hin, dass der ursprünglich für den Olympiazyklus geplante Leistungsaufbau nicht wie geplant umgesetzt werden konnte.

Wird da schon vorgebaut für eventuelle sportliche Enttäuschungen?

Es stellt sich halt die Frage, was die Leistungen im internationalen Vergleich wert sind. Der Medaillenspiegel in Tokio wird diesmal auch unterschiedliche Bedingungen, die durch die Pandemie in den letzten 18 Monaten entstanden sind, widerspiegeln.

Wie sehen Ihre Erwartungen für den Medaillenspiegel aus, in dem das Team Deutschland 2016 in Rio mit 17 Goldmedaillen die beste Ausbeute dieses Jahrtausends feierte?

Das war eine sehr erfreuliche Bilanz. In der Summe war die Medaillenanzahl bei den vergangenen Spielen immer im Bereich von 40 plus. Die internationalen Prognosen sehen für uns diesmal ein etwas schlechteres Ergebnis mit acht bis zehn Medaillen weniger vor. Wir machen seit vielen Jahren keine Vorgaben.

Manche versuchen, die Bilanz mit unerlaubten Methoden aufzubessern; das Kontrollsystem ist unter der Corona-Last kollabiert. Werden es die dreckigsten Spiele der Olympia-Geschichte?

Wir haben für Tokio in der Tat diesmal eine größere Ungewissheit. Die Wada (Welt-Anti-Doping-Agentur, d. Red.) hat die Dopingkontrollen weltweit sichergestellt – aber in der Pandemie waren sie teilweise auch sehr eingeschränkt möglich. Das führt zumindest zu mehr Skepsis.

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Welche Erkenntnisse erwarten Sie von Tokio mit Blick auf den Gigantismus der Olympischen Spiele?

Die Spiele von Tokio entsprechen in weiten Teilen bereits der Agenda 2020 des IOC. So finden wir in Tokio viele bereits seit Längerem vorhandene Wettkampfstätten, die nach Modernisierungs- und Sanierungsmaßnahmen bei den Spielen genutzt werden. So wird der Bestand genutzt und dies mit Neubauten mit Nachhaltigkeit verbunden.

Brisbane wurde dieser Tage in Tokio als Gastgeber für 2032 gekürt. Rhein-Ruhr-City wollte die Spiele nach NRW holen – werden wir noch mal Olympische Spiele in Deutschland sehen?

Brisbane ist ein sehr guter Kandidat. Die intensive Diskussion um mögliche Bewerbungen Deutschlands hat für meine Begriffe gezeigt, dass nach wie vor grundsätzliches Interesse an Olympischen Spielen in Deutschland besteht. Deshalb bleibe ich optimistisch, dass irgendwann auch wieder Olympische Spiele in Deutschland stattfinden.