London. Als einziger Torwart ist Jordan Pickford bei der EM noch ohne Gegentreffer - und das als Engländer. Was ihn so stark macht.
Rund 20 Minuten vor Schluss war der alte Jordan Pickford zu sehen. Nach einem Pass hinter die Abwehr stürmte Englands Torwart aus seinem Strafraum, wollte per Kamikaze-Tritt klären, doch der Versuch misslang, weil er den Ball nicht richtig traf. Dieser “Moment des Wahnsinns”, wie Ex-Nationalspieler Jermaine Jenas in seiner Funktion als Co-Kommentator für die BBC sagte, blieb ohne Folgen. Er änderte nichts am 4:0-Erfolg der Engländer gegen die Ukraine im EM-Viertelfinale, doch er erinnerte das englische Fußball-Volk daran, dass Pickford immer noch zu solchen Aussetzern im Stande ist. Dass er den alten Pickford noch nicht ganz abgeschüttelt hat – und damit auch ein englisches Trauma.
Das Tor ist bekanntlich die traditionelle Problem-Position der Engländer. Die Liste der Aussetzer von englischen Torhütern in großen Momenten ist ebenso lang wie tragisch: David Seaman, der sich bei der WM 2002 von einem Ronaldinho-Freistoß aus 30 Metern bezwingen ließ, Scott Carson, der England mit einem Patzer gegen Kroatien im entscheidenden Qualifikationsspiel die Teilnahme an der EM 2008 kostete, Robert Green, dem bei der WM 2010 gegen die USA ein ungefährlichen Distanzschuss durch die Hände glitt, zuletzt Joe Hart, der beim blamablen EM-Aus 2016 gegen Island eine schlechte Figur machte.
Jordan Pickford als eines der Gesichter des Aufschwungs
Das Turnier vor fünf Jahren führte zu einer Revolution der Nationalmannschaft unter dem seit Ende 2016 amtierenden Trainer Gareth Southgate. Der Ertrag ist bei der aktuellen EM zu besichtigen, bei der England an diesem Mittwoch gegen Dänemark um den ersten Final-Einzug seit dem berühmten WM-Erfolg 1966 spielt. Eines der Gesichter des englischen Aufschwungs seit 2016 ist Torwart Pickford. Der Mann vom FC Everton debütierte im November 2017 bei einem Freundschaftsspiel gegen Deutschland (0:0) in der Nationalmannschaft, half bei der WM vor drei Jahren in Russland entscheidend mit beim Halbfinal-Einzug der Engländer, unter anderem mit einem parierten Elfmeter im Elfmeterschießen gegen Kolumbien im Achtelfinale, und ist bei der EM einer von Englands Besten.
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Wann immer er gefordert war, war er zur Stelle und trug dazu bei, dass England als einzige Mannschaft des Turniers noch ohne Gegentor ist. Seine beste Leistung zeigte er beim 2:0 im Achtelfinale gegen Deutschland, als er stark gegen Timo Werner und Kai Havertz parierte. Gary Neville, Ex-Kapitän von Manchester United und eine einflussreiche Stimme im öffentlichen Diskurs in England, erklärte den Torwart hinterher per Twitter zum Mann des Spiels und schrieb: “Ich war bei Everton kritisch mit ihm. Aber er ist ein ganz anderer Spieler!” Damit traf Neville gut das allgemeine Empfinden zu Pickford.
Pickford vereint plötzlich Emotionalität und Ruhe
Der Torwart wirkte in der Vergangenheit oft flatterhaft, übermotiviert, unberechenbar. Sinnbildlich dafür war sein Foul an Virgil Van Dijk im vergangenen Oktober, mit dem er Liverpools Abwehrchef einen Kreuzbandriss zufügte. Diese Version des Torhüters ist der alte Pickford – derjenige, der bei der EM bislang nur einmal zu sehen war, bei seiner Kamikaze-Aktion gegen die Ukraine. Ansonsten spielt bei dem Turnier ein neuer Pickford – einer, der die richtige Mischung gefunden hat aus Emotionalität und Ruhe. Ein gutes Beispiel dafür war gegen Deutschland zu sehen, als Thomas Müller beim Stand von 1:0 alleine auf das Tor zulief. Der alte Pickford wäre vermutlich wild von seiner Linie gestürmt, möglicherweise hätte er Müller abgeräumt wie einst Van Dijk. Der Pickford dieser EM blieb ruhig, machte ein paar Schritte nach vorne, verkürzte geschickt den Winkel. Müller vergab, kurz danach entschied England das Spiel.
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Der Torwart war vor der EM umstritten, allerdings verletzte sich sein ärgster Konkurrent Nick Pope vom FC Burnley vor dem Turnier. Außerdem ist Trainer Gareth Southgate jemand, der treu zu seinen Profis steht, wenn sie sich in der Nationalmannschaft nichts haben zu Schulden kommen lassen. Und es ist in der Tat so, dass Pickford seine Fehler in der Vergangenheit vornehmlich im Everton-Trikot gemacht hat, nicht im Hemd der “Three Lions”. Deshalb ist er bei der EM gesetzt. Auch er selbst gesteht allerdings, dass er sich verändert hat, dass er erwachsener geworden ist.
Er führt das darauf zurück, dass er im Februar 2019 Vater geworden ist, und dass er mit mittlerweile 27 Jahren über viel Erfahrung verfügt. Außerdem vertraut er auf Einflüsse von außen. Er konsultiert regelmäßig alte Vertraute aus der Zeit bei seinem Jugend- und Heimatverein AFC Sunderland und arbeitet seit Sommer mit einem Sport-Psychologen zusammen. “Ich lerne, mit verschiedenen Dingen umzugehen und durch schwierige Phasen zu kommen”, sagt Pickford. Eine solche erlebte er gegen die Ukraine, rund 20 Minuten vor Schluss, als der alte Pickford zu sehen war. Im Halbfinale gegen Dänemark hofft Englands Fußball-Volk wieder auf den neuen, auf den EM-Pickford.